Berlin. Am kommenden Sonntag können die Berliner darüber abstimmen, ob die Hauptstadt schon bis zum Jahr 2030 klimaneutral werden soll – also 15 Jahre früher als die bislang verfolgte Zielsetzung. Dafür steht ein Gesetzesentwurf zur Abstimmung, der unter anderem eine starke Senkung des CO2-Ausstoßes vorsieht, eine klimafreundliche Renovierung der öffentlichen Gebäude sowie eine finanzielle Abfederung für Mieter, die von einem Anstieg der Energiekosten betroffen wären. Der Verein „Mehr Demokratie“ hatte im Sinne der Meinungsbildung am Mittwochabend zu einer Online-Diskussionsveranstaltung über den Volksentscheid eingeladen.
Auf dem Podium diskutierten der Grünen-Fraktionschef Werner Graf, Bernd Hirschl vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung, der CDU-Umweltpolitiker Danny Freymark, Christoph Deimel von der Architektenkammer und Jessamine Davis, Sprecherin von der Bürgerinitiative „Klimaneustart“, die den Volksentscheid entschieden vorangetrieben hat. Der Chefreporter der Berliner Morgenpost, Joachim Fahrun, moderierte die Veranstaltung vor mehr als 130 Zuhörern.
Große Herausforderungen im Bausektor
Zu Beginn der Debatte richtete Fahrun, seine Frage, ob Klimaneutralität bis 2030 überhaupt zu schaffen ist an die Wissenschaft. „Wir müssen schneller und ambitionierter werden“, sagte Hirschl, zeigte sich aber skeptisch. In dieser kurzen müssten tiefgreifende Veränderungen auf vielen Ebenen stattfinden. Er nannte den Ausbau und Umbau der Infrastruktur, Gebäudesanierung und auch die politische Willensbildung für dieses Ziel. „Das sind am Ende des Tages zeitliche Verzögerungen auf der Strecke“, sagte er. Deshalb werde eine Klimaneutralität bis 2030 wohl kaum möglich sein.
Deimel sprach auch von großen Herausforderungen für den Bausektor in Berlin. In der Praxis sei man noch weit davon entfernt, Berlin sowohl im Bestandsbau wie auch im Neubau klimaneutral zu gestalten, da zu wenige Fachkräfte mit genügend Wissen auf dem Markt seien.
„2030 ist eigentlich schon ein Kompromiss“
„Macht es trotzdem Sinn, ein solches Gesetz zu verabschieden?“, fragte Fahrun die Vertreterin der Initiative „Klimaneustart“. Eine entschiedene Antwort fand sie nicht darauf. „2030 ist eigentlich schon ein Kompromiss“, sagte Davis. Sie verwies auf den kürzlich vorgestellten IPCC-Bericht, dessen Hauptbotschaft war: Der Kampf gegen die Erderwärmung ist drängender denn je, allerdings können die Menschen noch umsteuern. Würde die Welt etwa die 1,5 Grad-Grenze wirklich ernst nehmen, müssten die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2030 um 48 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 fallen. „Deshalb wird das derzeitige Ziel bis 2045 nicht gut ausgehen“, sagte Davis. „Wir müssen es also zumindest versuchen.“
Die CDU, die sich gerade anschickt, eine Regierung mit der SPD zu stellen und somit auch den Volksentscheid umsetzen müsste, ist ebenfalls skeptisch – daraus macht auch Danny Freymark keinen Hehl. „2035 hätte ich zugestimmt“, sagte er. Aus seiner Sicht habe es in den vergangenen Jahren zu viele Ziele gegeben, die sich der Senat gesetzt habe, die aber nicht erreicht wurden.
Grünen-Fraktionschef sieht ein unrealistisches Gesetz
Auch die Berliner Grünen hatten sich als bisherige Regierungspartei zumindest nicht für das „Ja“ des Volksentscheids ausgesprochen. Grünen-Politiker Werner Graf sagte aber: „Jede Stimme für Engagement im Klimaschutz ist eine gute Stimme“. Er sehe zwar auch ein unrealistisches Gesetz, das womöglich verabschiedet werden könne. „Aber die Politik braucht Druck.“
330.000 Bestandswohnungen müssen auf einen Standard gebracht werden
Es herrschte auf dem Podium also eine gewisse Einigkeit, dass das Gesetz kaum zu erreichen ist. Wie schwierig das im Detail aussehen kann, zeigt ein Blick auf die energetische Gebäudesanierung. Davon sind in Berlin bis 330.000 Bestandswohngebäude betroffen. Sie müssten bis spätestens 2030 auf einen Standard gebracht werden. Auch da sah Deimel eine gewaltige Hürde auf Berlin zukommen. Sollten etwa übergreifend Wärmepumpen eingebaut werden, gebe es schon heute Lieferschwierigkeiten und eben zu wenige Fachkräfte für den Einbau. Könne man nicht etwa mit einer Spezialausbildung für Wärmepumpen-Monteure mehr Fachkräfte heranziehen, war dazu eine Frage aus dem Publikum.
Deimel schlug eine Ausbildungsoffensive im Handwerk vor. Allerdings dauere das seine Zeit. Davis warb indes für innovative Lösungen. „Es gibt beispielsweise eine Dämmungslösung mit Zeitungspapier“, sagte sie. Denn in solchen Notlagen wie derzeit, gehe es auch darum, innovative Lösungen zu finden.
Initiative „Klimaneustart“: Haben nicht vor zu klagen
Dann ging es in der Debatte auch darum, was passieren kann, wenn die Politik beispielsweise die Ziele nicht einhalten. „Muss Herr Freymark dann ins Gefängnis“, fragte Fahrun. Davis verneinte diese Frage. Man wolle keine leeren Versprechungen, sondern eine Verbindlichkeit, sagte sie. „Wir haben nicht vor zu klagen, wenn wir erkennen, dass der Senat alles tut, um das Ziel zu verwirklichen.“
Sollte der Gesetzesentwurf umgesetzt werden, sieht Hirschl eine Benchmark: das Jahr 2025. Der Entwurf sieht in weniger als zwei Jahren eine Senkung des CO2-Ausstoßes um 70 Prozent gegenüber 1990 vor. Real sei eher eine Reduktion von 45 Prozent. Und dafür müsse man schon eine „sehr ernsthafte Klimapolitik“ in Berlin verfolgen. Dann könne die Regierung entscheiden, wie sie weiterhin verfahre. „Aber am Ende ist das Handeln auf jeden Fall die bessere Option“, sagte er. Denn laut IPCC-Bericht habe der Mensch es noch in der eigenen Hand.