Berlin. Der Gang im Erdgeschoss des Moabiter Kriminalgerichts ist am Mittwochvormittag mit Hamburger Gitter abgesperrt. Vor Saal 101 haben mehrere Justizbeamte Position bezogen. „Wegen mir?“, fragt Lukas Wirtz etwas verwundert seinen Verteidiger, der bejaht. Die Sicherheitsverfügung gleicht der bei Verfahren gegen Organisierte Kriminalität, bei schweren Gewaltstraftaten oder wenn sich Links- oder Rechtsextremisten für Verbrechen verantworten müssen.
Ein Bild, in das Klimaaktivist Wirtz kaum passen mag. Die Anklage gegen den 28-Jährigen, von dem kaum Gefahr auszugehen scheint, lautet auf Nötigung. Der angehende Psychologe aus Kassel blockierte als Teil der Gruppe „Letzte Generation“ neben anderen am 21. Juni die Autobahn A100 an der Anschlussstelle Tempelhofer Damm, wo er sich auf der Fahrbahn festklebte. „Ich möchte das nicht bestreiten“, sagt Wirtz nachdem die Anklage gegen ihn verlesen wurde. Eine halbe Stunde später fällt das Urteil: 450 Euro Geldstrafe.
Wirtz sieht Straßenblockaden als angemessene Protestform
Während die Polizei an insgesamt sieben Orten in der Stadt gerade noch damit beschäftigt oder damit fertig war, Blockaden von Wirtz’ Mitstreiterinnen und Mitstreitern zu beenden, nahm der zu den Vorwürfen im Gerichtssaal Stellung. Die „Letzte Generation“ erachtet die Maßnahmen der Bundesregierung zum Klimaschutz als nicht ausreichend und will sie mit ihren Aktionen zu einem entschlosseneren Handeln auffordern.
Die Klimakrise sei die größte Bedrohung für den Planeten, sämtliche Lebensgrundlagen der Menschheit würden zusammenbrechen, heißt es von der Gruppe, die mitunter als radikal und fanatisch bezeichnet wird. „Ich sehe es als meine Pflicht, Alarm zu schlagen“, begründete der Angeklagte, warum er sich auf die Straße klebte. Das sei seiner Ansicht nach eine angemessene Protestform.
Staatsanwaltschaft: Menschen im Stau können Ziele nicht beeinflussen
Das sah die Anklagevertretung anders. Das Ziel, dass die Gruppe verfolge, sei zwar ein wichtiges, so Staatsanwältin Wegmann. „Die Personen, die beeinträchtigt wurden, können dieses aber nicht beeinflussen.“ Es handele sich um ein sogenanntes „Fernziel“. Wirtz hätte mit seiner Blockade letztlich mit der „Errichtung eines physischen Hindernisses“ auch Gewalt ausgeübt, sagte die Staatsanwältin und verwies auf die laufende Rechtssprechung.
Wirtz’ Verteidiger Adrian Furtwängler forderte hingegen einen Freispruch. Zwar stehe fest, was geschehen ist. Im Grundgesetz festgeschriebene Versammlungsfreiheit würde Sitzblockaden allerdings erlauben und eine Strafbarkeit bemesse sich an Dauer und Intensität der Aktion und sei im vorliegenden Fall zu verneinen.
„Die Blockade begann um 7.57 Uhr. Bereits um kurz nach acht hatte die Polizei eine Spur freigeräumt und damit eine Umfahrungsmöglichkeit geschaffen“, sagte Furtwängler. Der Stau betrug nur wenige hundert Meter, was zwar „unangenehm“, aber im morgendlichen Berliner Berufsverkehr „nichts Besonderes“ sei. Außerdem habe es „mehrere Möglichkeiten“ gegeben, „an der Blockade vorbei zu fahren“.
Richter als „Komplize bei der Vernichtung der Menschheit“ beschimpft
Laut Furtwängler gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Blockade und den Zielen. Die Klimakrise würde schon jetzt Menschen in anderen Teilen der Welt die Existenzgrundlage nehmen. Das drohe auch den Autofahrerinnen und Autofahrern Berlins, die wiederum durch die Abgase zum Klimawandel beitragen würden. Daher müsse eine Gesellschaft akzeptieren können, „dass das Grundrecht auf Fortbewegung eingeschränkt wird“, so der Verteidiger.
Diesen Ausführungen folgte der Vorsitzende Richter Triebeneck jedoch nicht und entsprach dem Antrag der Staatsanwaltschaft. „Sie machen sich zum Komplizen der Vernichtung der Menschheit“, erklang es nach dem Urteil aus dem Zuschauerraum von einer Unterstützerin Wirtz’.
Es ist mittlerweile das sechste Urteil des Amtsgerichts Tiergarten wegen der Klimablockaden. Die Anklagen lauteten allesamt auf Nötigung, in drei Fällen kam auch Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte dazu. In zwei Fällen wurde nach dem Jugendstrafrecht entschieden: Im ersten Urteil am 30. August erhielt ein 20-Jähriger 60 Stunden Freizeitarbeit, eine Gleichaltrige muss drei Beratungsgespräche absolvieren. In den übrigen Fällen ergingen Geldstrafen in Höhe von 200 sowie zweimal 600 Euro.
Staatsanwaltschaft hat Zahl der Verfahren auf 444 reduziert
Da täglich weitere Aktionen der Letzten Generation erfolgen, sind mit Stand vom Dienstag 729 Verfahren bei der Staatsanwaltschaft eingegangen, sagte Sprecher Sebastian Büchner. Bei Personen, die mehrfach tätig wurden, sind Verfahren verbunden und die Zahl dadurch auf 444 reduziert worden. Neben Nötigung und Widerstand gehe es vereinzelt auch um den Vorwurf des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.
Zumeist beantragt die Staatsanwaltschaft Strafbefehle über Geldbußen – bislang 241 Mal. In einem überwiegenden Teil der Fälle wurde Einspruch eingelegt – so auch bei Lukas Wirtz. Zwei Anklagen beim Jugendgericht wurden erhoben, vier der sechs Urteile sind mittlerweile rechtskräftig. 59 Verfahren wurden eingestellt und zwei Verfahren an die zuständige Ordnungswidrigkeitenbehörde abgegeben. 139 Verfahren sind noch offen.
Auch wenn in den meisten Fällen Einspruch gegen die Strafbefehle eingelegt wurde, hält die Staatsanwaltschaft daran fest. „Letztlich ist das Strafbefehlsverfahren zum einen das einfachere und schnellere“, sagt Sprecher Büchner. Außerdem ändere sich am Aufwand nichts, da bei der alternativen Anklageerhebung „ohnehin zwingend eine Hauptverhandlung erfolgen müsste, im Strafbefehlsverfahren hingegen nur, wenn Einspruch eingelegt wird“.
Seit Anfang des Jahres mehr als 200 Blockaden
Die „Letzte Generation“ ist seit Ende Januar in Berlin aktiv und hat seither mehr als 200 Blockaden veranstaltet. Jedes Mal mussten dabei Kräfte der Berliner Polizei anrücken. Irgendwann sei der Punkt erreicht, an dem die Behörde nicht mehr zu Lasten der Überstundenkonten unserer Kolleginnen und Kollegen täglich mehrere Einheiten nur für derart sinnfreie Sachen abstellen könne, sagte Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin.
„Wer Rettungswagen im Einsatz behindert, Kunstwerke zerstört, Menschen nötigt, begeht Straftaten, keinen Aktivismus.“ Dass sollten auch alle bedenken, die die Gruppe finanziell unterstützen. Zuletzt hatten Mitglieder am Sonntag Kartoffelbrei auf ein verglastes Gemälde im Potsdamer Museum Barberini geschüttet und sich dann angeklebt. Der Schaden wird im fünfstelligen Bereich geschätzt.
Während es zuletzt aus Reihen der Grünen und Linken zumindest Verständnis für die Ziele der Gruppe gab, spricht der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Björn Jotzo von „kriminellen Straftäterinnen und Straftätern“. Der Berliner Senat sei gefordert, in dieser Situation unverzüglich mit einer Stimme zu sprechen und die Taten endlich geschlossen zu verurteilen.
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