Die Berliner stimmten für die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Nur in zwei Bezirken hatte der Entscheid keine Mehrheit.
- 56,4 Prozent der Berliner haben in dem Volksentscheid für die Enteignung großer Wohnungskonzerne,
- Das Votum ist für die Politik rechtlich nicht bindend, Wahlsiegerin Franziska Giffey will den Volksentscheid aber respektieren.
- Vertreter der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ feierten den erfolgreichen Volksentscheid, die Immobilienbranche reagierte entsetzt.
- 29 Genossenschaften und zwölf Wohnungsunternehmen sind von den Enteignungen bedroht. Der Morgenpost liegen die Listen vor.
- Interaktive Karte: Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ - So hat Ihr Kiez gestimmt
Berlin. Fassungslose Freude bei den Befürwortern und beinahe ebenso fassungslose Bestürzung bei den Gegnern, als am Montagmorgen um 8.17 Uhr zur Gewissheit wird, was sich am späten Sonntagabend bereits abzeichnete: Die Berlinerinnen und Berliner haben sich mit deutlicher Mehrheit für die Enteignung großer Wohnungskonzerne ausgesprochen.
Nach Auszählung in allen Wahlbezirken stimmten bei dem Volksentscheid 1,03 Millionen Berliner beziehungsweise 56,4 Prozent mit „Ja“ und 715.000 beziehungsweise 39 Prozent mit „Nein“, wie aus den Daten der Landeswahlleitung hervorgeht. Gleichzeitig wurde das nötige Mindestquorum für die Zustimmung von einem Viertel der Wahlberechtigten erreicht. Damit ist der Berliner Senat laut Beschlusstext nun aufgefordert, „alle Maßnahmen einzuleiten“, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind, und dazu ein Gesetz zu erarbeiten.
- Lesen Sie auch den Kommentar: Franziska Giffey muss Wort halten
Volksentscheid Enteignung: Senat und Abgeordnetenhaus müssen sich mit Votum auseinandersetzen
Was passiert, wenn das Volksbegehren angenommen wird, ist allerdings noch offen, denn das Votum für die Politik ist rechtlich nicht bindend, denn abgestimmt wurde nicht über einen konkreten Gesetzentwurf, der durch einen erfolgreichen Volksentscheid direkt beschlossen wäre.
Dennoch werden sich der neue Senat und das am Sonntag neu gewählte Abgeordnetenhaus mit dem Votum auseinandersetzen müssen. Jedoch wird es sich kein Senat leisten können, die Unterstützerstimmen einfach zu ignorieren – und das ist wohl der größte Erfolg der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, die mit dem Volksentscheid Bestände alle Wohnungsunternehmen, die mehr als 3000 Mietwohnungen in Berlin besitzen, „sozialisieren“ will.
Enteignung: Umstritten ist, ob auch die Wohnungsbaugenossenschaften betroffen wären
Nach aktuellem Kenntnisstand wären davon ein Dutzend private Unternehmen mit etwa 243.000 Wohnungen betroffen. Umstritten ist, ob auch die rund 80 Berliner Wohnungsbaugenossenschaften mit mehr als 3000 Wohnungen betroffen wären. 29 von ihnen wären laut einem Gutachten ebenfalls betroffen. Das von den Unterstützern der Enteignungs-Initiative postulierte Ziel, die großen Berliner Genossenschaften von einem Vergesellschaftungsgesetz auszunehmen, sei auf verfassungskonformem Weg nicht zu erreichen, so die Gutachter.
Diese Genossenschaften sind von einer Enteignung bedroht
Laut einem Gutachten der Kanzlei GreenbergTraurig im Auftrag des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e. V. (BBU) sind auch 29 Genossenschaften mit mehr als 3000 Wohnungen von einer Vergesellschaftung bedroht. Dabei dürfte es sich um folgende Genossenschaften handeln:
- WGLi Wohnungsgenossenschaft Lichtenberg eG
- Beamten-Wohnungs-Verein zu Berlin eG
- bbg BERLINER BAUGENOSSENSCHAFT eG
- Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG
- Charlottenburger Baugenossenschaft eG
- Wohnungsbaugenossenschaft "Neues Berlin" eingetragene Genossenschaft
- Wohnungsbau-Verein Neukölln eG
- Beamten-Wohnungs-Verein zu Köpenick eG
- EVM Berlin Erbbauverein Moabit Eingetragene Genossenschaft
- Wohnungsgenossenschaft FRIEDENSHORT eG
- Wohnungsbaugenossenschaft "VORWÄRTS" eG
- Wohnungsbau-Genossenschaft "Treptow Nord" eG
- Baugenossenschaft IDEAL eG
- Wohnungsgenossenschaft Marzahner Tor eG
- Wohnungsbaugenossenschaft Friedrichshain eG
- Wohnungsbaugenossenschaft Zentrum eG
- Fortuna Wohnungsunternehmen eG
- Wohnungsgenossenschaft Neukölln eG
- Wohnungsbaugenossenschaft "Berolina" eG
- Wohnungsbaugenossenschaft DPF eG
- Erste Wohnungsgenossenschaft Berlin-Pankow eG
- Märkische Scholle Wohnungsunternehmen eG
- Wohnungsbaugenossenschaft "Köpenick Nord" eG
- Berlin Brandenburgische Wohnungsbaugenossenschaft eG
- Gemeinnützige Baugenossenschaft Steglitz eG
- Wohnungsbaugenossenschaft "Humboldt-Universität" eG
- Wohnungsgenossenschaft "WEISSENSEE" eG
- Wohnungsbaugenossenschaft Solidarität eG
- Wohnungsbaugenossenschaft Wuhletal eG
Diese Wohnungsunternehmen sind von Enteignungen bedroht
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die für die amtliche Kostenschätzung zuständig war, hat eine Liste von zehn Unternehmen zusammengestellt, die unter diese „Vergesellschaftungsdefinition“ fallen würden. Demnach sind folgende Unternehmen zu enteignen (Stichtag war der 30. September 2018):
- Deutsche Wohnen SE (111.500 Wohnungen)
- Vonovia (44.000)
- ADO Properties S.A. (22.200)
- Covivio SE (15.700)
- Akelius Residential Property (13.700)
- TAG Immobilien AG (9900)
- Grand City Properties S.A. (8000)
- BGP Gruppe (8000)
- Hilfswerk-Siedlung GmbH (6000)
- D.I.V. Deutsche Vermögens- und Immobilienverwaltung (3800).
Dazu kommen als neuer Player in der Stadt der schwedische Konzern Heimstaden (5500 Wohneinheiten) und nach einer Recherche der Rosa-Luxemburg-Stiftung die britische Pears Global Real Estate mit rund 6000 Wohnungen in Berlin.
„Wir haben die Stadt bewegt und politisch aufgerüttelt“, sagte Jenny Stupka von der Initiative bei einer eigens einberufenen Pressekonferenz am Montagmittag im „Refugio“ in der Lenaustraße in Neukölln. Die Abstimmung sei ein „unglaublicher Erfolg“, für den in den vergangenen drei Jahren mehr als 2000 Berliner aktiv geworden seien.
Nur in zwei Bezirken lehnte eine Mehrheit den Entscheid ab
Lediglich in zwei von zwölf Bezirken – in Steglitz-Zehlendorf und in Reinickendorf – hat eine Mehrheit der Wähler den Entscheid abgelehnt. Und selbst in diesen beiden Bezirken haben immerhin noch 44 Prozent, beziehungsweise 45 Prozent den Volksentscheid befürwortet. In Friedrichshain-Kreuzberg wurde sogar eine Zustimmungsquote von 72,4 Prozent erreicht – noch weit vor Mitte, der mit 63,7 Prozent auf Platz zwei kommt.
„Es war eine schöne, anstrengende Nacht“ „ergänzte Rouzbeh Taheri, Mitgründer der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. „Wir erwarten, dass nun mit Hochdruck ein Vergesellschaftungsgesetz erarbeitet wird. Die Koalitionsverhandlungen werden wir entsprechend intensiv begleiten – etwa durch ein Beobachtungskomitee“, so Taheri weiter. Keinesfalls werde man zulassen, dass der Beschluss verwässert werde: „Wer denkt, dass wir jetzt locker lassen, täuscht sich. Wir werden den Druck auf den Senat erhöhen.“
Initiative: Gesetzentwurf kann im Frühjahr 2022 vorliegen
Bereits im Frühjahr 2022 könne nach Auffassung der Initiative ein Gesetzentwurf ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden. Das in der vergangenen Woche vom Staatsrechtler Ulrich Battis vorgelegte Rechtsgutachten, nach dem die Enteignung großer Wohnungsbestände verfassungswidrig und somit auch ein positiver Volksentscheid nicht umsetzbar ist, überzeugt die Initiative nicht: „Es gibt inzwischen sieben Gutachten, die bestätigen, dass die Vergesellschaftung nach Grundgesetz Paragraf 15 greifen kann“, so Sprecherin Stupka.
So sieht es auch der Berliner Mieterverein (BMV). „Viele Gutachten haben gezeigt, dass eine Vergesellschaftung möglich ist. Die Politik sollte daher keine verfassungsrechtlichen Zweifel säen, sondern unter Einbindung aller Fraktionen ein wasserdichtes Gesetz erarbeiten“, sagte Wibke Werner, stellvertretende Geschäftsführerin des BMV.
Die Immobilienbranche reagierte erwartungsgemäß entsetzt, signalisierte aber Gesprächsbereitschaft: „Mit diesem Ergebnis muss jetzt umgegangen werden. Dabei gilt es, die Spaltung der Stadt nicht weiter zu vertiefen. Deshalb brauchen wir eine offene und ehrliche Diskussion darüber, wie es jetzt in der Berliner Wohnungspolitik weitergehen soll. Das Wohnungsproblem lässt sich nicht durch Enteignungen lösen, sondern nur durch gemeinsame Anstrengungen für mehr Wohnen“, sagte Maren Kern, Chefin des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen BBU.
Vonovia ist vom Volksentscheid besonders betroffen
Besonders betroffen vom Volksentscheid ist Vonovia, mit 40.000 Wohnungen Berlins zweitgrößtes privates Immobilienunternehmen. Vonovia steht kurz vor der Übernahme des größten Vermieters in der Hauptstadt, der Deutsche Wohnen (110.000 Wohnungen). „Angesichts der großen Herausforderungen kann sich Berlin keine jahrelange Hängepartie leisten, die durch die Befassung des neuen Senats mit einem Gesetzesentwurf zur Vergesellschaftung und die eindeutigen verfassungsrechtlichen Bedenken entstehen wird“, so Vonovia-Chef Rolf Buch.
Eine verantwortungsvolle Politik hat auch nach dem Entscheid die Möglichkeit, gemeinsam mit allen Akteuren des Berliner Wohnungsmarktes konstruktivere Lösungen zu erarbeiten, die dennoch die Sorgen vieler Berliner aufgreifen, appellierte Buch.
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