Wir haben uns an diesem klaren, nicht allzu kalten Tag am S-Bahnhof Priesterweg verabredet, weil hier der Zugang zum Natur-Park Schöneberger Südgelände liegt. Hier geht Dagmar Korbacher gern spazieren, um auf andere Gedanken zu kommen. Und wenn man sich einmal umsieht, kann man das gut verstehen. Auf 18 Hektar Fläche, früher teils Rangierbahnhof Tempelhof, teils Trasse der Anhalter und Dresdener Bahn, kann man hier ein Wunderwäldchen erkunden, eine fast magische Mischung aus überwucherten Eisenbahnanlagen, Kunstobjekten, bemalten Wänden und seltenen Pflanzen. Wer den Weg zur Arbeit am Morgen noch in einer heillos überfüllten S-Bahn absolviert und die Stadt insgeheim verflucht hat, kann hier durchatmen und den Blick schweifen lassen. Im Sommer, sagt Dagmar Korbacher, weiden hier sogar ein paar Schafe.
Zu Füßen des etwa 50 Meter hohen, rostigen Wasserturms gehen wir ein kleines Stück in den Park hinein und bleiben stehen, weil Fotograf Maurizio Gambarini sein Motiv gefunden hat: eine 1940 gebaute, längst ausrangierte Dampflok der Baureihe 50, die an die Vergangenheit des Geländes erinnert. Auf der Suche nach dem richtigen Winkel verwickelt sich Gambarini in eine Rangelei mit einer Gruppe kleiner Birken, scheint aber zufrieden mit dem Ergebnis. Er begleitet uns für den Rest des Spaziergangs, weil er unsere Gesprächspartnerin ebenfalls spannend findet.
Dagmar Korbacher - Zur Person:
- Dagmar Korbacher wurde 1975 in Erlangen geboren.
- Sie studierte Kunstgeschichte, Italienische Literaturwissenschaft und Klassische Archäologie in Eichstätt und Mailand und promovierte 2005.
- Beruflich war sie zunächst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und Auktionshaus Christie’s in Amsterdam tätig, bevor sie 2006 zu den Staatlichen Museen zu Berlin kam.
- 2010 wurde sie wissenschaftliche Referentin am Kupferstichkabinett für italienische, französische und spanische Kunst vor 1800. Sie verantwortete dort verschiedene Ausstellungen, etwa zu den Zeichnungen Botticellis zu Dantes Göttlicher Komödie und den Schätzen der Sammlung Hamilton im Jahr 2015, die 2016 auch in London gezeigt wurde.
- Seit November 2018 ist Dagmar Korbacher Direktorin des Kupferstichkabinetts.
- Das Kupferstichkabinett wurde 1831 gegründet, ist das größte Museum der Grafischen Künste in Deutschland und zählt zu den vier bedeutendsten Einrichtungen seiner Art weltweit.
- Die Sammlung umfasst fast 700.000 Werke der Zeichenkunst, Druckgrafik, Handschriften und illustrierte Bücher.
- Ab dem 28. Februar ist die Ausstellung „Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett“ zu sehen.
Dagmar Korbacher ist seit dem 1. November 2018 Direktorin des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin, und wer es nicht kennt und vom Wort „Kabinett“ auf etwas Kleines, Hinterzimmerartiges schließt, dem hilft ein Blick auf die Zahlen. Mit fast 700.000 Werken der Druckgrafik und der Zeichenkunst, mit opulent gestalteten Handschriften und illustrierten Büchern und anderen Arbeiten ist das Kupferstichkabinett das größte Museum seiner Art in Deutschland und eines der bedeutendsten weltweit. Die hier versammelten Werke bezeugen einen Zeitraum von über 1000 Jahren. Der Begriff des Kabinetts ist historisch zu erklären: Ein wichtiger Ausgangspunkt der Sammlung waren etwa 2500 Zeichnungen und Aquarelle, die durch Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg im Jahr 1652 erworben und in der Hofbibliothek aufbewahrt wurden, die dadurch zu einer Art Wunderkammer wurde. Solche fürstlichen Sammlungen gab es seinerzeit viele in Europa, eine Vorstufe der öffentlichen Museen. Der Begriff Kupferstichkabinett erzählt noch heute davon.
Dagmar Korbacher ist die erste Frau an der Spitze – nach 187 Jahren
Systematisch gesammelt wird im Kupferstichkabinett seit dem Jahr 1831, und mit Dagmar Korbacher ist nach 187 Jahren endlich einmal eine Frau an seine Spitze berufen worden – auch im Kulturbetrieb ist es ein recht langer, mühsamer Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Dagmar Korbacher erzählt in ihrer offenen, sympathischen Art und mit leicht fränkisch gefärbter Sprachmelodie, dass sie sich im Vorfeld darüber gar keine Gedenken gemacht habe: „Das wurde mir erst im Nachhinein bewusst. Beim Kupferstichkabinett gibt es eine sehr komplexe Sammlungsstruktur und eine sehr komplexe Geschichte. Man braucht natürlich eine besondere Affinität zur Kunst auf Papier.“ Und die hatte sie nicht nur mitgebracht, sondern in vielen Jahren am Kupferstichkabinett auch weiter geschult und ausgebildet. Seit 2006 arbeitet Dagmar Korbacher für die Staatlichen Museen, 2010 wurde sie am Kupferstichkabinett wissenschaftliche Referentin für italienische, französische und spanische Kunst vor 1800. Sie kennt diese reiche, vielfältige Sammlung sehr gut.
Eine S-Bahn rauscht vorbei, wir gehen an Betonwänden mit knallig bunten Graffiti vorüber. Das Kupferstichkabinett gehört zum Kulturforum, und selbstverständlich müssen wir auch über die große Baustelle sprechen, die Ende vergangenen Jahres dort mit feierlichem Spatenstich eröffnet worden ist. Das Museum des 20. Jahrhunderts soll dort in wenigen Jahren mit einer Nutzfläche von 16.000 Quadratmetern die vielfältigen Bestände der Nationalgalerie und die Schenkungen von Sammlern präsentieren. Zugleich soll es der städtebaulichen Misere am Kulturforum ein Ende setzen. Die riesige Freifläche vor Kupferstichkabinett, Gemäldegalerie und Kunstgewerbemuseum wird von vielen als unwirtlicher Transitraum empfunden und nicht als das, was sie eigentlich sein sollte: ein Ort der Begegnung und des Austausches. Für das Kupferstichkabinett und Dagmar Korbacher ist der Neubau eine gute Nachricht: „Das Museum des 20. Jahrhunderts wird für das Kupferstichkabinett eine ganz wichtige Erweiterung. Wir ziehen da mit 20.000 Kunstwerken rüber. Wir haben dort dann zwei Ausstellungsräume, Restaurierungswerkstatt, Ausstellungsvorbereitung und große Depotflächen. Von unseren Kunstwerken werden vor allem die größeren Formate des 20. Jahrhunderts dorthin umziehen.“
Wer so viel im Kupferstichkabinett zu zeigen hat, braucht auch viele Besucher
Es ist eng in den Museen am Kulturforum, viele spannende Exponate können aus Platzgründen gar nicht gezeigt werden – auch das hat historische Gründe: „Das Kulturforum ist ja in den 60er- und 70er-Jahren geplant worden für die Sammlung des Kupferstichkabinetts Berlin-West, das sich damals noch in Dahlem befand. Gebaut worden ist es allerdings erst Anfang der 90er-Jahre, und eingezogen sind dann tatsächlich Kupferstichkabinett West und Ost, und es war dann gleich komplett voll. Da freuen wir uns sehr, vor allem auf die beiden Ausstellungsräume, da können wir dann klassische Moderne, Nachkriegskunst und amerikanische Pop-Art zeigen. Das ist auch eine gute Sache fürs Kulturforum, dass diese Lücke gefüllt wird und dass es belebt wird – das wird wirklich gut.“
Wer so viel zu zeigen hat, braucht auch viele Besucher. Die Ausstellung zu den Renaissancekünstlern Andrea Mantegna und Giovanni Bellini, eine Kooperation von Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett, British Museum und National Gallery, hat sich im vergangenen Jahr als Magnet erwiesen, fast 200.000 Menschen wollten die Kunstwerke sehen. Aber solche Leuchtturmprojekte sind nur ein Teil der Bemühungen, das Museum im Gespräch zu halten. Dagmar Korbacher beschreitet hier auch den digitalen Weg. Auf Instagram kann man ihr unter ihrem Kürzel dagmarkk immer wieder bei der Arbeit über die Schulter schauen. Wir laufen gerade über eine alte, von Birken gesäumte Bahntrasse, als sie von den Pop-up-Ausstellungen im Kupferstichkabinett erzählt: „Die Social-Media-Nutzer können sich Werke aussuchen, dann kommen die Leute ins Kupferstichkabinett und die Werke, die sie sich online ausgesucht haben, werden ihnen aufgebaut, im Studiensaal auf Aufstellern. Das ist immer ein großer Erfolg. Es ist schön, wenn man Leute erreicht, die noch nie da waren.“
Zudem schreitet die Digitalisierung der Kunstwerke voran, um sie Interessenten weltweit zur Verfügung zu stellen. Dagmar Korbacher sieht keine Gefahr, dass sich dies negativ in den Besucherzahlen niederschlagen könnte: „Im Rijksmuseum in Amsterdam haben sie die Bestände sehr hochauflösend online gestellt, sodass man sich die herunterladen kann und sich ein Sofakissen oder ein Auto damit bedrucken kann. Und die haben festgestellt, dass die Leute umso neugieriger werden auf das originale Kunstwerk. Und das ist mittlerweile auch an mehreren Beispielen erwiesen. Die stärkere digitale Verfügbarkeit von Kunstwerken ist kein Ersatz, sondern macht nur neugieriger.“
Im Sommer erkundet das Museum die Fliegerei
Die Luft ist herrlich hier draußen, man würde sie gern für den Rest des Tages irgendwo speichern. Wir laufen jetzt über ein Stahlgitter, das auf den alten Schienen befestigt ist. Später werde ich lesen, dass es hier nicht nur darum geht, den Besuchern trockene Füße zu sichern. Es geht um Naturschutz: Unter dem Gitter können sich die Tiere besser bewegen, und man läuft nicht irgendwohin und stört brütende Vögel. Während wir uns langsam in Richtung Parkeingang zurückbewegen, kommen wir noch auf das Thema Provenienzforschung zu sprechen. Die Frage, woher die Sammlungsgüter stammen und ob sie rechtmäßig erworben wurden, muss sich in Deutschland jedes Museum stellen, auch das Kupferstichkabinett. Dagmar Korbacher erzählt von der Zusammenarbeit mit Provenienzforschern des Zentralarchivs. Alles, was zwischen 1933 und 1945 erworben wurde, kommt unter die Lupe: „Das ist eine Arbeit, die können wir im Haus nicht ohne Hilfe von Spezialisten machen. Natürlich gingen damals nicht reine Zeichnungssammlungen an die Museen, sondern da ist auch Kunstgewerbe dabei und Gemälde beispielsweise. Das ist ein großer Teil, außerdem fangen wir an mit den DDR-Provenienzen, das ist auch eine große Gruppe, die untersucht werden muss. Das dauert sehr lange.“
Es ist aber eine Arbeit, die sich lohnt und Gutes bewirken kann. Im April 2019 restituierte das Kupferstichkabinett die Tuschpinselzeichnung „Auf Hiddensee“ von Jakob Philipp Hackert, entstanden 1764: „Nachforschungen hatten ergeben, dass der Erwerb zur Zeit des Nationalsozialismus nicht mit rechten Dingen zugegangen war“, erzählt Dagmar Korbacher. „Ein Privatmann musste das Bild abgeben, um aus Deutschland emigrieren zu können. Wir haben die Erben ausfindig gemacht, die sehr überrascht waren, weil ihr Großvater mit ihnen gar nicht über diese Zeit hatte sprechen wollen. Die waren sehr dankbar, weil wir ihnen nicht nur das Werk zurückgegeben haben, sondern auch ein Stück Familiengeschichte. Und weil wir ihnen auch die ganzen Akten gezeigt haben und sie so nachvollziehen konnten, was ihrem Großvater widerfahren ist. Das war ein ganz berührender Moment.“
2020 viele spannende Projekte im Kupferstichkabinett
Wir kommen wieder an der Dampflok vorbei, wo wir anfangs das Foto gemacht haben, und blicken zum Schluss noch auf das Jahr 2020. Für das Kupferstichkabinett stehen viele spannende Projekte an, von denen Dagmar Korbacher mit Begeisterung erzählt. Zunächst wird es um Raffael gehen: Ab dem 28. Februar wird – in Ergänzung zu den derzeit in der Gemäldegalerie gezeigten Madonnen – die Ausstellung „Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett“ mit etwa 100 Zeichnungen und Druckgrafiken des Renaissancemeisters gezeigt. Anfang April geht es in der Ausstellungshalle weiter mit „Pop on Paper“: „Das ist Pop-Art, vor allem Siebdrucke von Warhol, Liechtenstein und anderen Künstlern. Und für den Sommer ist unter dem Titel „Wir heben ab!“ eine Ausstellung zum Thema Fliegen in der Kunstgeschichte geplant – passend zur für den Herbst geplanten Eröffnung des Großflughafens BER.
Und wenn die doch wieder verschoben wird? Dagmar Korbacher ist sich sicher, dass die Ausstellung auch dann gut funktionieren wird. Freundlich verabschieden wir uns an der Treppe zur S-Bahn.