Berlin . Wildscheine wüten auf Berlins größtem Friedhof “In den Kisseln“. Eine Treibjagd soll das Problem lösen. Experten sehen das kritisch.
Das schwarze Erdreich ist aufgewühlt, Grassoden liegen weit verstreut herum. Es sieht aus, als habe ein Bauer sein Feld umgepflügt – und zwar gründlich. Doch das hier ist kein Acker, sondern der Waldfriedhof „In den Kisseln“ in Berlin-Spandau.
Wildschweine haben auf dem größten Friedhof Berlins gewütet, nicht nur auf den Freiflächen und zwischen den alten Kiefern, sondern auch auf Wegen und Gräbern. Gegenüber einer Ruhestätte haben sich die Schwarzkittel eine regelrechte Toilette eingerichtet. Ihre Hinterlassenschaften sind üppig, der Geruch durchdringend.

Martina W. ist schockiert. Ganz in der Nähe sind die Großeltern der Spandauerin beerdigt. „Schlimm sieht das hier aus“, sagt sie. Noch haben die Tiere das Familiengrab verschont. „Ich weiß nicht, was mich erwartet, wenn ich das nächste Mal her komme“, sagt die 38-Jährige. Für sie ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Tiere auch dort alles verwüsten.
Jährlicher Schaden von rund 120.000 Euro
Die Wildschweine verursachen jährlich einen Schaden von rund 120.000 Euro, sagt Spandaus Baustadtrat Frank Bewig (CDU). Das Grünflächenamt bemühe sich um eine zeitnahe Behebung der Verwüstungen. Um die betroffenen Gräber müssen sich allerdings die Angehörigen selbst kümmern.
Nicht nur die Ruhe der Toten wird gestört, auch die Besucher sind verunsichert. „Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn plötzlich ein Wildschwein vor mir steht“, sagt Gertrud K. (78), die auf dem Friedhof das Urnengrab ihres Mannes pflegt.

Denn fühlt sich ein Tier bedroht, kann das gefährlich werden. Schließlich wiegt ein ausgewachsenes Wildschwein rund 100 Kilogramm und erreicht eine Schulterhöhe von bis zu einem Meter. Männliche Exemplare können sogar bis zu 150 Kilogramm und mehr wiegen und verfügen über respektable Hauer. Erst im September hatte ein Keiler im Hundeauslaufgebiet Tegel einen Mann und dessen Terrier schwer verletzt.
Derk Ehlert, Wildtierexperte und Sprecher der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, beruhigt: „Vor Wildschweinen muss man Respekt, aber keine Angst haben.“ Seit 18 Jahren begleitet er den Umgang mit Wildtieren in Berlin. In dieser Zeit kam es bis auf wenige Ausnahmen zu keinen Zwischenfällen mit den Schwarzkitteln.
Auf dem Friedhof sind mehrere Rotten unterwegs
„In den Kisseln“ sind offenbar mehrere Rotten unterwegs, um wie viele Tiere es sich genau handelt, kann Ehlert nicht sagen. Denn Größe, Zusammensetzung und Wege der Gruppen variieren ständig. Klar ist, dass die Tiere bereits Erfahrung mit dem Friedhof haben und diesen als üppige Futterquelle und Rückzugsort von Generation zu Generation weitergeben.
Stadtrat Bewig spricht von gut zwei Dutzend Tieren, darunter zwei Bachen mit Frischlingen. Zwar gibt es Beschwerden von Friedhofsbesuchern, zu ernsthaften Vorfällen sei es aber bisher nicht gekommen.
Neue Roste, Gitter und Zäune sollen die Schweine fernhalten
Als Grundstückseigentümer muss sich der Bezirk Spandau um das „Wildschwein-Problem“ kümmern. 120.000 Euro wendet das Bezirksamt nun für die Sicherungsmaßnahmen „In den Kisseln“ auf. Um den Tieren den Zugang auf das Gelände zu erschweren, wird an der Zufahrt an der Pionierstraße eine Gitterkonstruktion mit Betonfundament in den Boden eingelassen. Über das sogenannte Weiderost mögen die Schweine nicht laufen. Die Arbeiten sollen noch im Dezember fertiggestellt werden. Solange ist der Haupteingang für Besucher gesperrt.

Sich nach außen öffnende Tore sollen die Schweine daran hindern, in den mehr als 130 Jahre alten Friedhof einzudringen. Doch die mangelnde Disziplin der Besucher, die Zugänge geschlossen zu halten, bietet den Tieren immer wieder ungehinderten Zugang. Bewig appelliert deshalb an die Umsicht der Berliner. Und doch finden die Rotten immer wieder Löcher in den Zäunen, durch die sie sich zwängen oder unter denen sie sich einfach hindurch buddeln.
Deshalb sei bereits vor einigen Jahren der Außenzaun mit einem „Unterwühlschutz“ verstärkt worden, so Bewig. Außerdem werden alle Tore überprüft und Teile der Einfriedung komplett ausgetauscht. An der Radelandstraße wurden bereits Zäune tiefer in den Boden eingelassen, damit sich die Wildschweine nicht mehr darunter hindurch graben können, berichten Bauarbeiter vor Ort.
Große Treibjagd geplant
Dazu kommt „In den Kisseln“ das große Aufräumen nach dem verheerenden Sturm „Xavier“ Anfang Oktober. Wegen der Schäden wurde der Friedhof für mehr als sechs Wochen geschlossen. Rund 145 Bäume stürzten um, noch immer sind die Arbeiten in vollem Gange. Überall liegen entwurzelte Bäume und zersägte Stämme. Erst seit Kurzem ist die Anlage wieder für Besucher geöffnet. Inzwischen finden auch wieder Bestattungen statt, die sich durch die Sperrung zu Dutzenden aufgestaut hatten.

Nach Abschluss der Bauarbeiten plant der Bezirk auf Anfrage der Morgenpost noch in diesem Jahr eine Treibjagd mit rund 120 Treibern und mehreren Jägern. Man hofft, dass so die Wildschweine langfristig vertrieben werden. „Der genaue Ablauf steht im Straßen- und Grünflächenamt noch nicht fest“, sagt Jens Häsing, Sprecher der Spandauer Baubehörde. „Je nach Erfolg wird die Treibjagd aber wiederholt werden müssen.“
Weil Friedhöfe als Siedlungsgebiet gelten, darf dort aus Sicherheitsgründen nicht einfach gejagt werden. Dafür ist eine Ausnahmegenehmigung erforderlich. Diese wurde in Berlin der vergangenen Saison in mehr als 200 Fällen erteilt. Auch in diesem Jahr wurde in den 62 Hektar großen „Kisseln“ gejagt. Dabei schossen Jäger bereits etwa 30 Tiere, sagt Häsing.
Nabu-Expertin: Abschüsse lösen das Problem nicht
Katrin Koch, Referentin des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu), berät Anrufer am Wildtiertelefon der Berliner Umweltbehörde zu allen Fragen rund um Wildschwein, Waschbär und Co. Wie auch Ehlert ist sie der Meinung, dass sich das Wildschwein-Problem nicht durch Bejagung lösen lässt. Die einzelnen Abschüsse stünden in keinem Verhältnis zur immens hohen Vermehrungsrate der Tiere.
„Dafür fehlen die Manpower und die Jagdmöglichkeiten“, sagt Koch. In der Stadt zu schießen, sei äußerst gefährlich. Auf dem Friedhof könne das aus Sicherheitsgründen nur außerhalb der Öffnungszeiten erfolgen. Aber selbst dann sei das Risiko hoch. Wenn Kugeln auf Grabsteine prallen, können sie zu lebensgefährlichen Querschlägern werden. Jäger würden der Population nur „die Spitzen nehmen, sie aber nicht langfristig drosseln“, sagt auch Ehlert.

Koch und Ehlert sehen mehr Erfolgschancen in der konsequenten Einfriedung des Friedhofes. Im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf habe man damit bei Sportanlagen bereits sehr gute Erfahrungen gemacht, sagt Ehlert. Und Koch bestätigt: „Die Berliner wissen, wie man Wildschweine aussperrt.“
Die Schwarzkittel haben sich in Berlin mit seinem umfangreichen Waldbestand in den letzten Jahren stark vermehrt. Das üppige Nahrungsangebot in der Stadt, die milden Winter sowie die landwirtschaftlichen Monokulturen im Umland verschärfen die Entwicklung. Auf rund 5000 bis 6000 Tiere wird der Bestand in Berlin geschätzt, doch niemand weiß genau, wie viele es wirklich sind.
Wildschweine dringen immer weiter in die Stadt vor
Auf der Suche nach Nahrung dringen die Tiere vor allem in den warmen Monaten immer weiter in die Stadt vor. Dort kommen sie mittlerweile viel leichter an Futter, als in der freien Natur. Wenn die Böden im Sommer trocken und hart sind, lädt der Friedhof förmlich dazu ein, nach Fressbarem zu wühlen. Bevorzugt in der Dämmerung gehen die Tiere auf Futtersuche, wenn sie sich am wenigsten gestört fühlen.
Trifft man auf ein Wildschwein, sollte man in jedem Fall Ruhe bewahren. Die Tiere greifen selten Menschen an. Wegrennen oder hektisches Schreien verunsichert sie aber. Wildtierexperte Ehlert rät, in gebührendem Abstand stehen zu bleiben und laut und ruhig mit den Tieren zu reden, damit sie den Menschen bemerken. Wichtig sei, den Schweinen immer eine Rückzugsmöglichkeit zu geben und sie nicht zu bedrängen. Hunde sollten auf jeden Fall an der Leine gehalten werden.
„Das Verhalten der Berliner muss sich ändern, dass keinerlei Form der Fütterung erfolgt. Wildschweine verlieren sonst ihre Scheu vor Menschen. Selbst bis zu Spielplätzen dringen Bachen mit Frischlingen vor“, sagt Baustadtrat Bewig. Das Füttern von Wildtieren ist sogar generell verboten. Bei einem Zuwiderhandeln können bis zu 5000 Euro Geldstrafe erhoben werden.