Die jungen Männer aus Syrien, Nigeria, Somalia, dem Sudan oder dem Kosovo können wertvolle Arbeitskräfte für Betriebe der Hauptstadt sein. Eine Berliner Initiative bringt beide Seiten zusammen.

Hochkonzentriert setzt Ilir Qallaku die Bügelsäge an. Er soll einen schrägen Schnitt an einer Holzlatte vornehmen. Qallaku möchte ein rechteckiges Zaunfeld bauen. Eine schwere Aufgabe, wenn man nicht gerade gelernter Tischler ist.

Der Kosovare, Mitte 20, geht bedächtig vor – und legt einen mustergültig sauberen Schnitt hin. Werkstattleiter Henning Lindow ist beeindruckt. Er lobt seine Schützlinge, die aus Syrien und Nigeria, aus Somalia, dem Sudan und dem Kosovo nach Berlin gekommen sind. Sie alle verbindet, dass sie Flüchtlinge sind und in Deutschland um Asyl gebeten haben. Und sie alle wollen vor allem zwei Dinge: arbeiten und Deutsch lernen.

Lindow hat keinen Zweifel daran, dass die jungen Männer wertvolle Arbeitskräfte für Berliner Betriebe sein können. „Die Leute müssen wollen, das ist wichtiger als eine Qualifikation. Und hier in der Gruppe wollen alle“, sagt der 31 Jahre alte Möbeltischler und Produktdesigner. Er leitet die Tischlerei-Übungswerkstatt bei Arrivo Berlin, einer Ausbildungs- und Berufsinitiative zur Integration von Flüchtlingen in den Berliner Arbeitsmarkt.

Ihr Ziel ist es, zum einen etwas gegen den akuten Fachkräftemangel und die hohe Zahl unbesetzter Lehrstellen in Berliner Betrieben zu tun, zum anderen Asylbewerbern, die über praktische handwerkliche Kenntnisse verfügen, den Weg in eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Unter dem Motto „Flüchtling ist kein Beruf. Talente brauchen Chancen“ will die Initiative beide Seiten in Kontakt bringen. Arrivo Berlin wurde Anfang dieses Jahres gestartet und wird getragen von der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration, der Handwerkskammer Berlin und dem Netzwerk für Bleiberecht bridge.

Nach Ostern auf den Lehrbauhof

Das Internationale Jugend-Kunst- und Kulturhaus „Schlesische 27“ organisiert seit mehreren Jahren Berufsvorbereitungsprogramme, auch für Flüchtlinge. Der Verein erarbeitete für Arrivo mit Unterstützung von Berliner Innungen ein Werkstattprojekt zur Berufsorientierung und zur Vermittlung der Asylbewerber an Betriebe. Kern des Pilotprojekts für zunächst 25 Teilnehmer ist ein „Übungswerkstätten-Parkour“, an dem sich die Innungen für Maler und Lackierer, für Dachdecker, für Sanitär, Heizung und Klima, für Metall- und Kunststofftechnik, für das Kraftfahrzeuggewerbe sowie die Fachgemeinschaft Bau beteiligen. Bis zum Sommer durchlaufen die Flüchtlinge im Monatsrhythmus Praxisstationen bei Innungsbetrieben. Bei Eignung und dem Einverständnis beider Seiten folgt dann ein vierwöchiges Betriebspraktikum. Dieses ist im Idealfall der Zugang zu einer Ausbildung. Kommt kein Praktikum zustande, bleibt der Teilnehmer im Parkour.

Viele aus der Gruppe haben längst einen Berufsabschluss, sind Maler, Elektriker, Automechaniker oder Mediengestalter. Oft entsprechen ihre Ausbildungen aber nicht den deutschen. Die meisten sind gern bereit, noch einmal eine Ausbildung in einem anderen Berufsfeld zu machen. Hauptsache, sie können irgendwann arbeiten. Immerhin leben die meisten schon seit mehr als einem Jahr in Deutschland. Ihr Engagement zeigt sich auch darin, dass sie in ihrer Freizeit die deutsche Sprache büffeln oder an der Abendschule ihren Hauptschulabschluss nachholen. Keine Kleinigkeit, wenn man am nächsten Morgen pünktlich um 6.30 Uhr in der Praxisstation zu erscheinen hat und vorher mit der BVG quer durch die Stadt fahren muss. Untereinander sprechen die Flüchtlinge ebenfalls deutsch. Angesichts der vielen Nationalitäten wäre etwas anderes auch gar nicht möglich.

Nach Ostern tritt die Gruppe zur nächsten Station auf dem Lehrbauhof Marienfelde an, dem Berufsförderungswerk der Fachgemeinschaft Bau. Der 24 Jahre alte Syrer Khaled Chihabi wird allerdings nicht dabei sein. Er beginnt dann ein Praktikum als Kfz-Mechatroniker in einem Betrieb in Karlshorst. Chihabi ist beileibe nicht der erste, dem das gelungen ist. Sein Platz in der Gruppe bleibt nicht leer, es gibt eine lange Warteliste. Nach Berechnungen der Integrationsbeauftragten leben in Berlin 13.000 Flüchtlinge, die nach dem Gesetz berechtigt wären, an einem solchen Projekt teilzunehmen.

Eine zweite Werkstättenstraße im Sommer

Für den Sommer ist geplant, Arrivo um eine zweite Übungswerkstättenstraße zu erweitern und das Projekt für insgesamt 100 Flüchtlinge auszuweiten. Die Finanzierung ist zwar noch nicht endgültig gesichert, doch der politische Wille bei Senat und Koalition ist offenbar vorhanden. Dazu müsste Geld aus anderen, nicht ausgeschöpften Etats umverteilt werden. Zudem soll nach Informationen der Berliner Morgenpost das Projekt im nächsten Doppelhaushalt 2016/2017 entsprechend verankert werden. „Arrivo geht den richtigen Weg: Flüchtlingen, die arbeiten dürfen, wird nach einem Intensivkurs der deutschen Sprache eine Aufgabe und damit eine Zukunft gegeben. Die Menschen aus Somalia, Nigeria, Syrien oder dem Sudan sind mit großer Motivation dabei, ihre teilweise vorhandenen Fertigkeiten in handwerklichen Berufen auszubauen oder neu zu erlernen. Ein gutes Projekt, das potenzielle Fachkräfte des Handwerks mit Berliner Betrieben zusammenbringt“, sagte Florian Graf, CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, nach einem Besuch bei dem Projekt.

Doch bei allem Lob und allen Erfolgen haben die Arrivo-Verantwortlichen – Projektleiter Anton Schünemann, seine Assistentin Franziska Hartmann und Sozialpädagogin Emily Kuck – auch Wünsche an die Politik. Etwa, dass die Ausländerbehörde ihre Ermessensspielräume mehr zugunsten der Flüchtlinge auslegt. Oder dass die Brüche „zwischen den Gesetzen und dem Leben“, wie Emily Kuck es ausdrückte, beseitigt werden. Manche Betriebe zögerten, einen Asylbewerber als Azubi aufzunehmen. Sie befürchten, dass er abgeschoben wird. Auch Politiker wie Arbeits- und Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) und Wirtschaftsvertreter wie Handwerkskammerpräsident Stephan Schwarz fordern einen leichteren Zugang von Flüchtlingen in den Arbeits- und vor allem den Ausbildungsmarkt.

Akuter Bedarf an examinierten Pflegekräften

Andere Firmen setzen darauf, auch ohne Zwischenvermittler Arbeitskräfte unter den Flüchtlingen rekrutieren zu können. Das Sozialunternehmen Volkssolidarität will seine direkten Kontakte zu den Bewohnern von Sammelunterkünften nutzen, um Mitarbeiter zu gewinnen. Wenn im Juli das Containerdorf am Blumberger Damm in Marzahn eröffnet, wird die Volkssolidarität die soziale Betreuung der Flüchtlinge übernehmen. „Wir können die Menschen sofort screenen und ihre Kompetenzen feststellen“, sagte Geschäftsführer André Lossin. Sein Unternehmen könne sofort direkt an die Flüchtlinge andocken, ohne andere Gesellschaften dazwischen zu schalten.

Wie andere in der Berliner Sozialwirtschaft, sucht Lossin, Ex-Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, dringend Personal. Auf 25 bis 30 examinierte Pflegekräfte schätzt er den akuten Bedarf. Allein durch die Neuregelung der Rente mit 63 habe die Volkssolidarität elf Pfleger verloren. Aber auch Techniker, Hauswarte oder Erzieher könnten bei dem aus historischen Gründen vor allem im Ostteil Berlins starken Wohlfahrtsverband und seinen Tochterunternehmen anfangen. Der Plan ist, den Flüchtlingen zunächst bezahlte Berufspraktika und auch Sprachkurse anzubieten. „Wer sich gut anstellt, kann bei uns auch eine Ausbildung machen“, sagte Lossin. Dass Flüchtlinge einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben und womöglich während oder nach der Ausbildung abgeschoben werden könnten, schreckt ihn nicht. Er möchte nicht warten, bis alle rechtlichen Hürden aus dem Weg geräumt sind. „Ich mache das“, sagte der Volkssolidarität-Chef, der auch zu den sozialpolitischen Vordenkern der Berliner SPD gehört.

Mit ausländischen Arbeitskräften hat die Volkssolidarität Erfahrung. Früher waren es Koreanerinnen, die in Deutschland als Pflegerinnen gearbeitet haben. Ab August werden acht Chinesen nach Berlin kommen und bei dem Sozialunternehmen anfangen. Noch lernten sie in China Deutsch. Aus Lossins Sicht bedeutet sein neuer Plan eine Win-Win-Situation für die Volkssolidarität, die Flüchtlinge und die zu betreuenden Menschen sowie ein neues Geschäftsfeld. Die Flüchtlingsarbeit könne ein neues Geschäftsfeld für sein Sozialunternehmen bedeuten, sagte Lossin. Der Bedarf an Arbeitskräften sei gerade in der Sozialwirtschaft enorm. Lossin schätzt, dass allein in Berlin zwischen 700 und 900 Pflegekräfte fehlen, Tendenz steigend. Aber womöglich seien ja viele künftige Pfleger schon in der Stadt und warteten in den Flüchtlingsheimen auf ihre Chance.