Internet-Plattform

Wo Berlin ein Paradies für Mundräuber ist

| Lesedauer: 9 Minuten
Constanze Nauhaus

Foto: Amin Akhtar

Obst wild und ganz legal pflücken: Unterstützer der Internet-Plattform Mundraub zeigen Berlinern auf Radtouren, wo welche Früchte in der Metropole wachsen - vom Sanddorn bis zur Marone und Schlehe.

Und hier soll etwas wachsen, das man essen kann? Hier, direkt am U-Bahnhof Frankfurter Allee, zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen, und dann auch noch an einem roten Baum, von dem sicher niemand weiß, wie er heißt?

„Das ist eine Kirschpflaume, auch Blutspflaume genannt“, sagt Andie Arndt und räumt etwaige Zweifel sofort aus dem Weg. „Das Tolle an dem Baum: Erstens sind die Früchte unheimlich lecker, zweitens weiß das niemand, weil sie sich, drittens, farblich so gut an die Blätter anpassen“, sagt die 39-Jährige. Die Umstehenden lachen.

Zehn Berliner haben sich mit ihren Fahrrädern an diesem Mittwochnachmittag in Friedrichshain zusammengefunden, um mehr über wild wachsende Früchte in der Stadt zu erfahren. Darüber geben Andie und ihre Kollegin Magda Zahn, 37, bereitwillig Auskunft, in den nächsten drei Stunden werden sie die Wiss- und Essbegierigen siebeneinhalb Kilometer durch Friedrichshain, Treptow und Kreuzberg führen, mit dem Versprechen: „Ihr werdet die Stadt danach mit anderen Augen sehen!“

Interaktive Früchte-Karte

Andie und Magda engagieren sich für Mundraub, eine Internet-Plattform, die in den vier Jahren ihres Bestehens herrenlose Obstbäume und -sträucher vor allem in Berlin, aber auch in ganz Deutschland und Europa anzeigt. Sogar einen Brombeerstrauch in Vancouver und einen Bananenbaum im thailändischen Kathu haben User bereits eingetragen. Von diesen Beiträgen lebt die interaktive Früchte-Karte. 20.000 Einträge gibt es dort mittlerweile schon, davon allein 2000 in Berlin.

„Jetzt, in der Saison, bekommen wir an die 200 neue Meldungen pro Tag“, sagt Magda und strahlt. Die Stadt sei schließlich voll von Essbarem, umsonst und draußen, wie sie den teilweise mit großen Körben angereisten Teilnehmern verkündet. Deshalb bieten die beiden Obstliebhaberinnen seit Juni dreimal in der Woche geführte Radtouren an. Jeden Monat ändern sie, je nach Saison, die Strecke.

Der August steht im Zeichen der Mirabelle, für September haben sie aktuell eine Äpfel-und-Birnen-Tour konzipiert und dann wird es auch noch Ernte-Camps geben. Neben den bekannten Sorten kommen auch andere Früchte nicht zu kurz. So bestaunen die Teilnehmer der Mundraub-Tour heute eben auch die noch nie gesehene Blutspflaume.

Aromatische Walnüsse in Lichtenberg

Da deren Saison leider bereits vorbei ist, schwingen sich die Teilnehmer der Tour wieder auf die Räder. Weiter geht es zu Station zwei, gleich um die Ecke an der Wilhelm-Guddorf-Straße im Nachbarbezirk Lichtenberg. „Weiß jemand, was das ist?“, fragt Magda vor einem Baum in die Runde. „Walnüsse“, rät eine junge Frau. Richtig. Essen sollte man sie erst ausgehärtet, erklärt Magda, aber dann seien sie köstlich. „Viel aromatischer als die, die es im Supermarkt gibt, wo alle Bitterstoffe herausgezüchtet werden.“ Sogar Haare und Holz könne man dank des starken Farbstoffes der Nüsse braun färben, und bei Mundraub wird gerade mit dem Sud der Blätter experimentiert. Ein Anti-Mücken-Mittel soll daraus werden.

Dann geht es weiter Richtung Treptow. Auch Benjamin Schöler aus Schöneberg fährt heute mit. „Ich kenne das Projekt Mundraub schon lange und finde es toll, aber die Idee mit der Fahrradtour ist wirklich großartig“, freut er sich. „In der Stadt gibt’s ja so eine Hemmschwelle, man würde nicht einfach etwas pflücken und essen. Nach der Tour traut man sich sicher mehr.“

An einer Eberesche kommt die Gruppe vorbei. Wer ist nicht mit der Mahnung aufgewachsen: Niemals Vogelbeeren essen! Sonst, so die Warnung, sterbe man quasi sofort. Doch die Beeren sind nicht giftig. „Gekocht, etwa als Marmelade, sind sie sehr bekömmlich, vor allem nach dem ersten Nachtfrost“, erklärt Magda, ihre Augen leuchten. Wie die orangefarbenen Vogelbeeren, die für alle Umstehenden gerade einen Imagewechsel durchleben. „Das Schöne am Mundräubern ist ja, man pflückt nicht nur vielseitig, sondern ist auch beim Verarbeiten kreativ.“

Lust auf Neues

Magda und Andie lieben diese Touren, das merkt man ihnen an. Beide kommen vom Land, sind mit frei zugänglichem Obst groß geworden. „Wir wollten endlich wieder Sonnenbrand beim Arbeiten kriegen“, sagen sie und lachen. Die Medienpädagogin Andie hatte nach Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit Lust auf Neues, und auch Magda vermisste bei ihrer Schreibtischarbeit das Praktische.

„Wir zeigen ja nichts Neues. Mirabellen kennt man und Walnüsse auch“, sagt Magda. „Aber man nimmt sie nicht wahr in der Stadt, wir kennen sie nur abgepackt im Supermarkt.“ Die Strecke ist auch über das Obst hinaus überlegt gewählt, selbst Berliner staunen, was es in Berlin alles gibt. Alte, verfallene Gründerzeithäuser säumen die verlassenen Straßen am Ostkreuz, und immer wieder taucht Holunder dazwischen auf, mittlerweile mit nur noch wenigen schwarzen Beeren. „Stare und Amseln vergnügen sich daran“, sagt Magda. „Und auch sonst ist Holunder durch die ganzen Limonaden ja zum Trendbaum mutiert.“

Auf einem kleinen Spielplatz rufen die beiden Guides zu einer längeren Rast. Nicht umsonst heißt die Exkursion Mirabellen-Tour, am Rand des Plätzchens steht ein großes Exemplar mit vielen kleinen gelben Früchten. Andie und Magda sind vorbereitet. Mithilfe einer langen Stange werden die Zweige geschüttelt, vier Freiwillige stehen mit einem Bettlaken im Mirabellen-Regen. Im Nu kommen Kinder angerannt, es ist genug für alle da. Andie schmiert Brote mit selbst gemachter Mirabellenmarmelade. Die Stadt ist ein Schlaraffenland.

Obst in Auspuffhöhe ist tabu

Doch: Wir sind noch immer in Berlin. „Erste Mundräuber-Regel: Von Früchten, die näher als zehn Meter an einer Verkehrsstraße wachsen, die Finger lassen“, mahnt Magda. Vor allem, wenn sie sich wie die Zierquitten, die ebenfalls bestens für Marmelade geeignet sein sollen, hinter einem beinhohen Zaun in der Corinthstraße auf Auspuffhöhe befinden. „Zweite Mundräuber-Regel: Alles hinter Zäunen ist eigentlich tabu“, sagt Andie zu den Tour-Teilnehmern, von denen einige bereits ihre Hände ausgestreckt haben. Aber wenn die Quitte nun genau durch eine Zaunlücke ragt? Ja, es ist alles Auslegungssache. Wenn man einfach bei den Anwohnern nachfrage, könne man am wenigsten falsch machen. Ganz offen an der Straße steht hingegen eine Baum-Hasel, ein beliebter Straßenbaum. Pflegeleicht und mit wunderschönen Blüten. „Und leckeren Nüssen“, weiß Magda.

Am „Bürgergarten Laskerwiese“ in Friedrichshain folgt ein kurzer Exkurs zum Gemeinschaftssinn, der unserer Gesellschaft nach Magdas Ansicht verloren gegangen ist. „Ich nehme mir lieber alles, bevor ein anderer mir etwas wegnimmt, so denkt man heute“, kritisiert sie. Doch in Form von Foodsharing, Gemeinschaftsgärten und nicht zuletzt durch Pflück-Tipps auf Mundraub kehre dieses gemeinschaftliche Bewusstsein langsam wieder zurück. Nach kurzer innerer Einkehr halten sich alle an einem Sanddornstrauch schadlos. Sauer sind die kleinen Beeren, im Vitamin-C-Rausch kommen Erinnerungen an Kindheitsurlaube auf Hiddensee hoch. Manche werden rührselig zwischen all dem Gemeinschaftssinn und den Gaben von Mutter Natur. An einem kleinen Park springt Magda plötzlich vom Rad. „Moment“, ruft sie und ist schon in einem Busch mit roten Beeren verschwunden. „Das kenne ich schon, ihre Mundräuber-Nase juckt“, sagt Andie lächelnd. Kurz darauf taucht Magda wieder auf. „Falscher Alarm“, verkündet sie und wird ein wenig ungehalten. „Mann, dieses blöde Zeug wächst überall, aber man kann es nicht essen. Das ärgert mich total!“ An einem Kastanienbaum gesteht sie später, dass auch dessen Ungenießbarkeit sie „total ärgert“. Aber: Zerkleinert man getrocknete Kastanien mit einem Hammer und legt sie in Wasser, entstünde aufgrund der enthaltenen Saponine Seifenlauge.

Man spürt: Mehr noch als fehlender Gemeinschaftssinn regt sie die angebliche Nicht-Verwendbarkeit von Früchten auf. Ein Baum am Straßenrand tröstet. „Rosa Haselnüsse.“ Magda strahlt. Tatsächlich, die Fruchthüllen der Nüsse schimmern rosafarben durch das Blattwerk der Gemeinen Hasel. Obwohl sie innen noch weich sind, schmecken sie großartig. „Wir wollen die Städter davon überzeugen, dass man nicht aus der Stadt rausfahren muss, um Früchte naschen zu können“, sagt Andie. „Aber, Mundräuber-Regel Nummer drei: Nichts essen, was man nicht kennt!“

Laken unterm Mirabellenbaum

Mit einem Potpourri aus Rucola, Sauerampfer, Schlehen, Hagebutten, Kornelkirschen, Äpfeln, Traubenkirschen und Brombeeren im Magen und einigen unreifen Maronen in der Tasche rollt der Trupp mit Bettlaken bewaffnet durch Treptower und Görlitzer Park zur letzten Station: Einem großen Mirabellenbaum in der Reichenberger Straße in Kreuzberg. Schon stellen sich zwei ältere türkisch sprechende Damen mit einem noch größeren Bettlaken ein. „Junger Mann, können Sie mal helfen?“ Bald darauf sind die Laken voller Obst, die Mägen voller Vitamine und die Straße voll selig lächelnder Menschen. Manchmal ist die Welt eben einfach nur in Ordnung.

Infos unter www.mundraub.org, Touren: 12 Euro, Kinder fünf Euro.