Das neue Jahr ist gerade eine gute Woche alt, und der Winter hat Berlin und den öffentlichen Personennahverkehr bislang weitgehend verschont. Doch jetzt gibt es Kritik an den Zukunftsplänen von S-Bahn, BVG und Senat. Die Interessengemeinschaft Eisenbahn, Nahverkehr und Fahrgastbelange Berlin (IGEB) sieht spätestens für 2018 erneut einen Fahrzeugmangel bei der S-Bahn und fordert vom Senat den Ausbau des BVG-Angebots.
Die IGEB kritisiert, dass bei der S-Bahn noch immer nicht genügend Fahrzeuge einsetzbar sind, um das gesamte bestellte Verkehrsangebot fahren zu können. Weiterhin prognostiziert die IGEB, dass sich spätestens in fünf Jahren der Fahrzeugmangel bei der S-Bahn wieder verschärfen wird. Als Grund dafür nennt die IGEB die vom Berliner Senat jahrelang verzögerten Ausschreibungen. Von der BVG fordert die Interessengemeinschaft vor allem für die U-Bahn und Straßenbahn mehr neue Fahrzeuge und mehr Personal.
„Der Senat muss jetzt die Weichen für den S-Bahn-Ersatz beziehungsweise S-Bahn-Ergänzungsangebote im Eisenbahnregionalverkehr und vor allem bei der BVG stellen“, sagt der stellvertretende IGEB-Vorsitzende Jens Wieseke. „Auch die BVG hat keine Fahrzeug- und Personalreserven mehr, um den absehbaren Fahrgastzuwachs zu bewältigen.“
BVG will noch mehr Fahrgäste gewinnen
Bei der BVG sind laut IGEB die Fahrgastzahlen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Dennoch wurden der Fahrzeugbestand und das gefahrene Angebot bei der U-Bahn, der Straßenbahn und den Bussen, die sogenannten Nutzwagenkilometer, erheblich reduziert. Die Interessengemeinschaft stellt folgende Rechnung auf: mit 235 Millionen Nutzwagenkilometern wurden 2011 rund zehn Prozent weniger gefahren als 2001 (261 Millionen Nutzwagenkilometer).
Die Zahl der U-Bahn-Wagen sank im selben Zeitraum von 1403 auf 1242 – ein Minus von elf Prozent. Bei Straßenbahn und Bus würde es nicht besser aussehen. Für einen weiteren Anstieg bei den Fahrgastzahlen gebe es keine Reserven mehr. „Diese Entwicklung muss nicht nur gestoppt, sondern umgekehrt werden“, sagt Wiesecke. „Vor allem bei U-Bahn und Straßenbahn werden neue Fahrzeuge benötigt.“
Nach eigenen Angaben befördert die BVG im Jahr etwa 936 Million Fahrgäste, im Schnitt also 2,6 bis 2,7 Millionen Personen täglich. „Unser Ziel und unsere Aufgaben sind die Fahrgastgewinnung. Wir streben in den kommenden Jahren die Milliardengrenze an“, sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. „Wir planen auf Wachstum.“
BVG ist eines der größten Bauunternehmen in Deutschland
Das Verkehrsunternehmen tue alles, um Fahrgäste zu gewinnen. „Wir sind in Berlin gut ausgelastet, aber nicht überlastet.“ Die BVG hätte noch Kapazitätspuffer, sonst könnte man schließlich nicht mit Fahrten zu Ausflugszielen werben. Bei der Bestellung neuer Fahrzeuge für die Straßenbahn hat das Unternehmen die Zahlen bereits korrigiert. Statt der zuvor bestellten 99 Straßenbahnfahrzeuge namens Flexity wurden 2012 insgesamt 138 Fahrzeuge bestellt. „Hätten wir vor Jahren von so einem Zuwachs bei der Straßenbahn gesprochen, hätte uns niemand geglaubt“, sagt Reetz.
„Jetzt haben wir schnell reagiert.“ Und bei der Anschaffung neuer U-Bahn-Züge würden die Ausschreibungen bereits laufen. Von der U-Bahn-Bestellung bis zum Einsatz würde es dann etwa zwei Jahre dauern. Damit wäre auch der Fahrzeugbestand für die voraussichtlich 2019 fertiggestellte Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof ausreichend. Die IGEB hatte die Verlängerung aufgrund der hohen Kosten und der Streckenführung parallel zur S-Bahn viele Jahre abgelehnt. Jetzt räumt der Verband ein, dass „aufgrund des Fahrzeugmangels bei der S-Bahn die Verlängerung erheblich an Bedeutung gewinnt“.
Die BVG baut pro Jahr für etwa 200 Millionen Euro und ist damit eines der größten Bauunternehmen Deutschlands. „Die BVG wird auch in den kommenden Jahren viel bauen“, sagt Reetz. „Wir sind gut vorbereitet und denken strategisch.“ Man schätze den Fahrgastverband, akzeptiere auch dessen Kritik, aber bitte mit Augenmaß, so Reetz.
Alle neuen Züge frühestens 2020 im Einsatz
Der S-Bahn wirft die Interessengemeinschaft vor, dass noch immer nicht das gesamte bestellte Verkehrsangebot gefahren wird. Das sei eine Folge der von der Deutschen Bahn zu verantwortenden S-Bahn-Krise mit Tiefpunkt 2009, heißt es. In diesem Zusammenhang kritisiert die IGEB den Senat, der die Ausschreibungen für das mit Neufahrzeugen zu bedienende Teilnetz seit Jahren verzögert. Jetzt sei die Zeit abgelaufen, um 2018 mit ausreichend Neufahrzeugen an den Start zu gehen.
Erst Mitte 2014 kann der Wettbewerbssieger der Ausschreibung die Industrie mit der Entwicklung und Herstellung der benötigten 190 neuen Viertelzüge beauftragen. Frühestens Ende 2020 könnten dann alle neuen Züge im Einsatz sein. „Der Altbestand von 160 Viertelzügen reicht nicht aus, die erforderlichen 190 neuen Viertelzüge zu ersetzen“, sagt Wiesecke. „Aus den Neubaustrecken zum Flughafen BER und vom Nordring zum Hauptbahnhof ab 2017 errechnet sich ein deutlicher Mehrbedarf.“