Donnerstagabend am Rande der Plenarsitzung. An einem weiß gedeckten Tisch im „Casino“ des Abgeordnetenhauses sitzen vier zufriedene Piraten. Martin Delius, Heiko Herberg, Oliver Höfinghoff und Christopher Lauer lassen es sich schmecken. Erst gibt es Suppe, einen Schokoriegel für Zwischendurch, dann Schnitzel mit Kartoffelsalat.
Die Plenarsitzungen dauern oft bis in die Nacht hinein, die Piraten wissen längst, dass man für diese Marathondebatten gut gerüstet sein muss und zwischendurch auch mal ein Weilchen im Plenum fehlen darf – vergangenen Herbst kommentierten sie noch mit großer Verwunderung auf Twitter, wenn sich die Reihen neben ihnen im Sitzungssaal lichteten.
Jetzt werfen sie nur einen Blick über die Schulter auf den Bildschirm mit der Liveübertragung der Debatte. Ein Redner der CDU steht am Pult, es geht um den Nachtragshaushalt. „Da wäre es jetzt schwer, die Wette nicht zu verlieren“, sagt Delius. Er hat mit Lauer gewettet, eine ganze Plenarsitzung zu überstehen, ohne dazwischenzurufen. Die vier jungen Männer feixen wie Schuljungen.
Der 28 Jahre alte Martin Delius soll bald den wichtigen Flughafenuntersuchungsausschuss leiten. Auch Höfinghoff wird sich um den BER-Ausschuss kümmern. Den Posten des Parlamentarischen Geschäftsführers übernahm jüngst Heiko Herberg von Delius. Und Lauer ist sowieso der wohl bekannteste Pirat überhaupt.
Er wird zu Talkshows eingeladen, auf der Straße erkannt, der „Spiegel“ widmete ihm jüngst eine Seite. Er ist seit Neuestem Co-Fraktionschef neben Andreas Baum. Lauer ist ein begabter Redner. Gerade erst hat er im Plenum mit einer anderthalbminütigen Rede überrascht, in der er Klaus Wowereit lediglich aufforderte, in Sachen Flughafen seine Arbeit ordentlich zu machen und die Show bleiben zu lassen. Für die Vier am Tisch ist das vergangene Jahr super gelaufen, was sie gern bestätigen.
Sensationelle 8,9 Prozent
Ein Jahr ist es her, dass die Piraten am 18. September aus dem Stand mit sensationellen 8,9 Prozent der Stimmen in Berlin das erste Mal den Sprung in ein deutsches Parlament schafften. Der Erfolg kam für sie ebenso überraschend wie für die Öffentlichkeit und ihre politischen Mitbewerber. Die Berliner Piraten hatten nur 15 Personen für ihre Landesliste aufgestellt. Niemand konnte sich im Wahlkampf zuvor vorstellen, dass jeder von ihnen einen Sitz im Abgeordnetenhaus bekommen würde.
Eine Bilanz nach einem Jahr für die Fraktion zu ziehen ist kaum möglich. Denn die Fraktion als Ganzes gibt es nicht. Aus Sicht der Piraten gibt es 15 einzelne Piraten im Abgeordnetenhaus. „Wir sind Individuen, und so möchten wir auch gesehen werden“, sagt Martin Delius. Das drückt sich etwa darin aus, dass es keinen Fraktionszwang gibt. Jeder darf abstimmen, wie er will, so wurde etwa Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister auch von Piraten gewählt.
Doch eigentlich gibt es auch keine Fraktion von 15 Individuen, vielmehr existiert ein Jahr nach der Wahl eine Fraktion mit zwei Lagern. Es gibt eine Gruppe der Meinungsführer, der Macher und Medienprofis, die untereinander eng zusammenarbeiten. Und eine Gruppe, die stärker fremdelt mit dem Politikbetrieb, die sich zurückgezogen hat – und die sich von den anderen oft untergebuttert fühlt.
Irgendwann in den vergangenen Monaten hat sich die Fraktion verloren. Die Piraten haben in ihrem ersten Jahr im Parlament so viel erlebt, dass es für eine ganze Legislaturperiode reichen würde. Sie wurden überrannt von Journalisten aus aller Welt. Mit allem konnten sie Aufmerksamkeit erregen: Mit ihrer Art der Kommunikation beim Online-Kurznachrichtendienst Twitter oder mit ihren live im Internet übertragenen Fraktionssitzungen. Gerwald Claus-Brunner gehörte mit seiner bunten Latzhose und dem Palästinensertuch auf dem Kopf schnell zu den am meisten fotografierten Politikern Berlins. Seine Kopfbedeckung machte auch Schlagzeilen, als Charlotte Knobloch, Ex-Präsidentin des Zentralrats der Juden, sie als ein Zeichen für die Unterstützung des Kampfs gegen Israel und die Juden kritisierte. Seither trägt Claus-Brunner auch einen Davidstern um den Hals. An Skandälchen und Skandalen mangelte es den Piraten nicht. Mal wollte Susanne Graf als Mitarbeiter ihren Freund einstellen, mal verglich Martin Delius den Aufstieg der Piraten mit dem der NSDAP vor 1933.
Vor allem aber mussten sich die Piraten in den Politikbetrieb des Parlaments eingewöhnen. Mussten lernen, die Ordnung im Ausschuss zu beachten, spontane Stellungnahmen abzugeben, Reden zu halten und ihre Kontroll- und Gesetzgebungsfunktion auszuüben. Viel Anlaufzeit brauchten sie nicht: Sucht man in der Parlamentsdokumentation nach Anträgen, Gesetzentwürfen und Anfragen an den Senat, so liegt die kleinste Fraktion bei der Trefferzahl im guten Mittelfeld hinter Grünen und Linken – und vor CDU und SPD. Ihren größten politischen Erfolg hatten die Piraten damit, den „Schultrojaner“, eine Überwachungssoftware auf Schulcomputern, zu verhindern. Auch mit einer Organklage für mehr Abgeordnetenrechte verschafften sie sich Respekt. Und man kann es wohl auch als einen Erfolg der Piraten bezeichnen, dass sich durch ihre bloße Präsenz auch die anderen Parteien viel stärker mit Fragen der Transparenz und der politischen Möglichkeiten im Internet auseinandersetzen.
Doch die Verteilung der politischen Initiativen auf die 15 Piraten fällt sehr unterschiedlich aus. Eigentlich ist das auch normal für eine Fraktion. Allerdings haben die Piraten den Anspruch, Politik anders machen zu wollen, sie verabscheuen den Hype um Posten und Personen, wollen eine „Mitmachpartei“ sein.
Genervt von der Prominenz
Gekracht hat es in der Piratenfraktion schon früh. Bereits im Winter nahmen die 15 Neuparlamentarier einen Mediator mit in ihre Fraktionsklausur, um Konflikte zu lösen, die sich in der anstrengenden Eingewöhnungsphase in der neuen Parlamentsumgebung aufgestaut hatten. Doch seit der jüngsten Fraktionsklausur in Potsdam und der anschließenden vorgezogenen Vorstandswahl kurz vor der Sommerpause ist die zuvor inoffizielle Spaltung der Partei nun in Ämtern zementiert. Die wichtigsten Ausschüsse und die Fraktionsposten teilen sich nun eine kleine Gruppe um Martin Delius und Christopher Lauer. Fabio Reinhardt und Susanne Graf hatten keine Lust mehr auf Vorstandsarbeit, auch Gerwald Claus-Brunner zog seine Kandidatur zurück. Der sonst vollkommen unauffällige Wolfram Prieß trat schließlich aus Protest gegen das „abgekartete Spiel“ an, „um die Farce dieser Wahl abzumildern“, doch Lauer setzte sich eindeutig gegen ihn durch.
Angesprochen auf seine Jahresbilanz, kritisiert Lauer vor allem den Politikbetrieb, die Show zwischen Regierung und Opposition. „Aus dem Kasten hier könnte man viel mehr rausholen“, sagt er und meint das Abgeordnetenhaus. Einige seiner Fraktionskollegen kritisieren dagegen zuerst die Fraktion und ihre Führung. Um Strategie und konstruktive Zusammenarbeit habe sich der neue Vorstand kümmern sollen, passiert sei nichts, inhaltliche Arbeit als Fraktion sei kaum mehr möglich. „Die Stimmung bei uns ist schlimm“, sagt ein Pirat. „Ich habe meistens keine Lust mehr, in der Fraktionssitzung was zu sagen, man wird ja doch nur von denen niedergeredet oder erntet einen Shitstorm.“ Ein Shitstorm ist eine Welle der Entrüstung, Scherze und Pöbeleien bei Twitter. „Bei uns gibt es emotionalen Fraktionszwang.“
Nicht nur in der Fraktion, auch an der Basis sind viele Piraten genervt von der Prominenz und dem inhaltlichen Vorpreschen der Führungsclique. Das wurde auch am Sonnabend bei der Landesmitgliederversammlung der Berliner Piraten deutlich. In den Bewerbungsreden der Kandidaten um den Posten des Landesvorsitzenden etwa wurde mehrfach kritisiert, bei den Piraten würden zunehmend Personen und Posten im Mittelpunkt stehen, man solle stattdessen doch wieder mehr für Transparenz sorgen und sich auf die basisdemokratische Idee der Piraten zurückbesinnen. Das will nun Gerhard Anger tun, der nach einer siebenmonatigen Auszeit von den Delegierten erneut zum Landesvorsitzenden gewählt wurde. Die Kritik an der Dominanz mancher Fraktionsmitglieder kann Martin Delius nicht nachvollziehen. „Jeder kann und soll sich beteiligen, aber wer es nicht tut, soll darüber nicht meckern, wenn es andere tun“, sagt er. Und Lauer ergänzt, dass jeder ihn jederzeit erreichen könne, um Ideen zu besprechen. Auch sei niemand verpflichtet, Mitglied der Fraktion zu sein.
Ein Jahr liegt der Wahlerfolg der Piraten zurück. Sie sind ganz offensichtlich angekommen im Politikbetrieb. Nun stehen neue Aufgaben an: Der Bundestagswahlkampf und die Leitung des Untersuchungsausschusses zur geplatzten Flughafeneröffnung, die als ihre Reifeprüfung gilt. Und dabei müssen sie dafür sorgen, dass der Spalt in ihrer Fraktion und der Partei nicht zum Bruch wird.