Die Studie des Senats offenbart die unterschiedliche Entwicklung in Berlins Stadtvierteln. Ein Gewinner ist Kreuzberg, wo zwischen Imbissbuden und Müllkippen nun Menschen von Galerien und Feinkostläden gelockt werden. Ganz anders der Beusselkiez.
Es blinkt, im Beusselkiez. Und zwar an allen Ecken. Spielkasinos haben zu jeder Tag- und Nachtzeit geöffnet. Entlang der Turmstraße reihen sie sich aneinander wie Perlen an einer Schnur. Hineinschauen in die Automatensalons und Wettbüros kann man nicht, denn fast überhall kleben bunte Folien auf den Scheiben.
„In den letzten Jahren ist das mit den Kasinos hier wie mit der Pest“, sagt Herbert Fibiger, der einen kleinen Laden mit bunter Kleidung in einer Seitenstraße betreibt. Was ihn am meisten daran stört, ist wohl, dass sie ihm die Kundschaft streitig machen. „Hier im Kiez gibt es immer mehr Hartz-IV-Empfänger, die nicht viel Geld haben“, sagt er. Statt gelegentlich bei ihm ein neues Hemd oder ein Kleid zu kaufen, verplemperten die Leute ihr Geld nun in den Spielhöllen, wie er sie nennt. „Ab dem 6. eines Monats ist hier nun tote Hose, da sind die meisten schon pleite.“
Die Zahlen aus dem Sozialatlas geben ihm Recht: Im Vergleich zum letzten Jahr ist die Arbeitslosigkeit unter den 15- bis 63-Jährigen gestiegen. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat zugenommen. Am deutlichen ist aber der Anteil der unter 15-Jährigen nach oben geklettert, die Transferleistungen bekommen. Übersetzt heißt das: Im Beusselkiez steigt die Kinderarmut. Im Jahr 2009 ist der Kiez im Gesamtberliner Ranking um zehn Plätze abgerutscht – von Rang 382 auf 392. Zwar gibt es in Moabit Gegenden, die noch schlechter dastehen. Doch der Abwärtstrend ist im Beusselkiez besonders stark. In der Sozialwertung zählt der Kiez nun nur noch zur Gruppe 4 (sehr niedriger Entwicklungsindex), während er 2008 immerhin noch zur Gruppe drei gehörte (niedriger Entwicklungsindex).
Ein Rundgang durch Moabit setzt dem Bild, das der Sozialatlas entwirft, nur wenig entgegen. Jugendliche mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzenpullis streunen ziellos umher, die Hände tief in die Taschen vergraben. Mütter mit Kinderwagen und mindestens einem weiteren Kind an der Hand stöbern in den Wühlläden, in denen man für kein Kleidungsstück mehr als zehn Euro ausgeben kann – selbst wenn man es wollte. Und die Männer verschwinden in den Kasinos oder in einem der vielen Solarien, die den Weg säumen. Bei so viel Konkurrenz ist Werbung erforderlich, und so lockt eines der Sonnenstudios gar mit dem Versprechen, man könne sich hier „seine Sorgen wegsonnen“.
„Ich wollte einfach weg“
Früher hat Alexandra Bauchmüller auch im Beusselkiez gewohnt. „Aber als ich dann meine kleine Tochter bekommen habe, wollte ich weg von hier“, sagt die junge Mutter. Sie meine das ja nicht böse, aber es würden immer mehr Ausländer in den Kiez ziehen. Ein Trend, den die Studie bestätigt. Und wenn ihre kleine Tochter alt genug sei, solle sie nicht zur deutschen Minderheit in der Klasse gehören. Also ist Alexandra mit Mann und Kind nach Wilmersdorf gezogen. Zurück nach Moabit zieht sie nicht etwa die Sehnsucht nach der alten Heimat, sondern die guten Preise der vielen türkischen Obst- und Gemüsehändler.
Es geht nur wenig voran im Beusselkiez, findet auch einer, der den Bezirk schon lange kennt. Als Postbote fährt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, schon 20 Jahre kreuz und quer durch Moabit. Während er eine kleine Frühstückspause am Ende der Goerdelerdamm-Brücke einlegt, denkt er über die Veränderungen nach, die der Kiez über die Zeit erfahren hat. „Auf den Straßen sehe ich immer mehr Leute, die nichts mit sich anzufangen wissen“, sagt er. Und so werde er regelmäßig Zeuge von Überfällen.
„Ich bin jedenfalls froh, dass ich hier nicht wohnen, sondern nur arbeiten muss“, sagt er. Der Postbote hat den Eindruck, das einzige, was zunehme, seien Döner-Geschäfte und Pfandhäuser. Dass der Kiez nun schon zum wiederholten Male zum Absteiger unter den Berliner Straßenzügen gehört, wundert ihn gar nicht. „Die Gegend ist einfach nicht attraktiv für Leute mit Geld, die einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen“, sagt er. Sieht es denn wirklich an allen Ecken so düster aus, wie es der Postbote schildert? Der Mann mit dem gelben Fahrrad denkt nach und relativiert den Abwärtstrend nun doch noch ein wenig: „Ich muss zugeben, an den Rändern des Kiezes tut sich was. In der Quitzowstraße und am Spreeufer werden immer mehr Häuser saniert“, sagt er. Er vermutet, die Investoren wollten besseres Klientel anlocken und so die Gegend langsam aufwerten.
Und tatsächlich, in der Nähe des Spreeufers in der Gotzkowskystraße finden sich erste Anzeichen einziehenden Wohlstands. In „Freddy Lecks Waschsalon“ tummeln sich Studenten und Rentner, dort waschen Arbeitslose neben Abgeordneten, wie Ines Eckstein erzählt. „Unseren Laden gibt es nun schon seit fast drei Jahren – und ja, das Publikum wird stylischer.“ In die Gegend zögen immer mehr Studenten – wegen der niedrigen Mieten und der zentralen Lage. Und das bunte Publikum wäscht Seite an Seite bei „Freddy Leck“, in dessen Salon rotgemusterte Retrotapeten und opulente Kronleuchter für ungewöhnlichen Glanz im ansonsten tristen Kiez sorgen. „Es stimmt schon, wir sehen eigentlich ein bisschen nach Prenzlauer Berg aus“, sagt Ines Eckstein. Der Unterscheid sei aber, dass in Moabit Leute wohnten, die sich zuhause keine Waschmaschine leisten. Ein kleiner Hoffnungsschimmer im Kiez.
Ein Kiez, der auf dem richtigen Weg ist, ist der Oranienplatz in Kreuzberg. Er war lange Zeit ein Absteiger – so wie der Beusselkiez. Doch das hat sich geändert.
Die Zahlen belegen, dass es rund um den Oranienplatz aufwärts geht. Auch wenn das Nachbarquartier rund um den Moritzplatz auf Rang 434 das Berliner Schlusslicht bildet. Die Arbeitslosigkeit unter Erwachsenen und Jugendlichen ist leicht gesunken, genau wie die Kinderarmut, attestieren die Statistiker im aktuellen Berliner Sozialatlas. In der Gesamtberliner Betrachtung bedeutet das: Der Kiez liegt nun auf Rang 383 – ein Sprung von immerhin 21 Plätzen in nur einem Jahr. Das Quartier zählt nun zur Gruppe 3.
An diesem Januarvormittag ist auf den Kreuzberger Straßen von dieser positiven Entwicklung wenig zu bemerken. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich: Zwischen Imbissbuden, schäbigen Häuserfassaden und wilden Müllkippen entsteht etwas Neues. Galerien, Feinkostläden und Biomärkte sprechen ein ganz neues Publikum an.
„Die Dresdener Straße und der Oranienplatz sind geradezu aufgeblüht“, sagt Lampendesignerin Catherine Grigull, die ihr Ateliergeschäft direkt am Oranienplatz hat. In den letzten Jahren seien viele junge Familien und Kreative in diesen Teil Kreuzbergs gezogen. Das merke man auch an den steigenden Mieten. Für ihr Geschäft sei diese Entwicklung durchaus von Vorteil: „Früher hat die Nachbarschaft meine Arbeit nicht verstanden. Heute ist die Akzeptanz viel größer“, sagt die 45-Jährige. Das sieht Angela von Tallián ähnlich. „Man sieht in der letzten Zeit deutlich mehr Kinder auf den Straßen. Das war früher nicht der Fall“, sagt die Chocolatière und Inhaberin des Geschäfts „Art en chocolat“ am Oranienplatz. „Ich habe den Eindruck, dass noch vor einigen Jahren junge Familien in den Speckgürtel gezogen sind, sobald ihre Kinder ins schulfähige Alter gekommen sind.“ Dieser Trend sei mittlerweile gestoppt.
„Wir wohnen seit 26 Jahren in derselben Straße und sind sehr glücklich hier“, sagen die Zwillingsschwestern Stefanie und Geraldine Wühle. Auch die nächste Generation werde in diesem Kiez aufwachsen, sagt die Auszubildende Stefanie, die ihren Sohn Oskar fest an sich drückt. In Kreuzberg herrsche ein mediterranes Lebensgefühl, es gebe ein herzliches Zusammenleben mit vielen unterschiedlichen Nationalitäten. Auch ihre dreijährige Tochter Emma fühle sich wohl. „Das Kita-Angebot hier an der Oranienstraße ist super“, sagt ihre Mutter.
Der Senat hatte alle Daten aus dem Sozial-Atlas ins Internet gestellt.