Heute Morgen hat er wieder daran gedacht. Wie es wäre, frei zu sein. Er würde einfach aufstehen und gehen. Für immer. Neben Ahmet Celik* liegt seine Ehefrau. Er liebt sie nicht. Das hat er nie getan. Und trotzdem wird er jeden Morgen aufs Neue neben ihr wach. In einer Ehe, die er nie gewollt hat. Und das seit 24 Jahren.
Ahmet wurde zwangsverheiratet. Nicht in der Türkei, nicht in irgendeinem kleinen anatolischen Dorf, sondern mitten in Deutschland. Der Berliner gehört zu einer kaum bekannten Minderheit. Wie viele Männer genau in Deutschland aus religiösen oder traditionellen Gründen zur Ehe gezwungen werden, darüber gibt es keine offiziellen Statistiken. Fast 30 Männer meldeten sich im vergangenen Jahr bei Berliner Beratungsstellen.
Es ist nur eine Dunkelziffer. Anders als betroffene Frauen reden Männer aus Scham nicht über diese familiäre Unterdrückung. Beratungsstellen speziell für Männer gibt es nicht. Die Schicksale junger Mädchen, die bedroht oder ermordet werden, wenn sie sich dem Willen ihrer Familie widersetzen, sind bekannt. Zwangsverheiratung von Männern ist jedoch kein Thema. Der türkische Mann ist Patriarch und Pascha, vielleicht auch ein gewalttätiger Unterdrücker – aber ein Opfer? Das ist ein Bild, das nicht in die Integrationsdebatte passt.
Der Psychologe Kazim Erdogan hat in Berlin-Neukölln eine Selbsthilfegruppe für muslimische Männer gegründet. Er kennt den Zwiespalt betroffener Männer: „Sie leiden unter der Scham und dem Druck, haben aber das Gefühl, für die Familie stark sein zu müssen“. Sich von Fremden Hilfe zu holen, wäre für Ahmet vor über 20 Jahren undenkbar gewesen. Heute ist er 42.
Noch immer kostet es ihn Überwindung, darüber zu sprechen, dass sein Vater ihn als Jugendlichen zu einer Ehe gezwungen hat. Von Geburt an habe das Familienoberhaupt ihm türkische Traditionen gepredigt. Noch heute sind sie so tief in Ahmet verwurzelt, dass er im Gespräch immer wieder hin und hergerissen ist zwischen der Wut und dem Respekt gegenüber seinem Vater. Mit ihm kam Ahmet, der in einem kleinen Dorf in der Türkei aufgewachsen ist, Anfang der 80er Jahre als 12-Jähriger nach Deutschland. Es war der klassische Gastarbeitertraum: Die Mutter wurde in der Türkei zurückgelassen. In Berlin baute sich der Vater mit einer kleinen Gaststätte eine Existenz auf.
Ahmet spricht fließend deutsch, scheint gut integriert. Als Jugendlicher hatte er viele Freundinnen. Manchmal auch mehrere gleichzeitig. „Ich war 16, das ist doch normal…“, schmunzelt er. Wie es sich anfühlt, ein bisschen verliebt zu sein, weiß Ahmet. Auch wenn das lange her ist. Dann war da plötzlich dieses Mädchen. Als sie ihn in der Kneipe seines Vaters, wo er nach der Schule aushalf, um eine Zigarette bat, fand er sie ganz nett. Mehr nicht.
Sie trafen sich ein paar Mal. Ahmet war 17, als sein Vater ihm sagte, er müsse das gleichaltrige Mädchen nun heiraten. Schließlich wären sie ja zusammen. Sie war die Tochter eines Bekannten. „Wir dürfen ihn nicht enttäuschen“, sagte der Vater. Es ging um Ehre. Und was er sagte, war Gesetz. Ahmet war sich nicht darüber bewusst, was damals passierte, sagt er heute. Er liebte das Mädchen nicht. Kannte sie kaum. Nach seinem Verständnis waren sie nicht zusammen. Er wollte eigentlich die Schule beenden, flirten, feiern, frei sein. Doch sein Vater drohte, ihn zu verstoßen, sollte er sich widersetzen.
Ahmets Mutter war nie aus der Türkei nach Deutschland nachgekommen. Inzwischen lebten die Eltern in Scheidung. Sein Vater wollte nicht zurück in die alte Heimat. Umso mehr schien er hier jedoch deren Traditionen aufrecht halten zu wollen. Den Widerspruch zwischen der zerrissenen Familie und den ehelichen Moralvorstellungen seines Vaters erkannte der junge Türke damals nicht.
„Es ging alles so schnell“, erzählt Ahmet mit gesenkter Stimme. Plötzlich fand er sich auf seiner eigenen Verlobungsfeier wieder. In der Kneipe seines Vaters. Sich gegen ihn aufzulehnen, wäre für Ahmet undenkbar gewesen. „Das war mein Fehler, ich bereue es noch heute“. Angst vor Gewalt hatte er nie. Der psychische Druck sei für ihn viel schlimmer gewesen, sagt der 42-Jährige, wie Folter. „Bei uns ist es ganz normal, dass die Älteren respektiert werden. Man tut einfach, was die sagen.“ Sich auflehnen? Abhauen? Das geht nicht. „Ich bin doch Türke“.
Mit 18 heiratete Ahmet das Mädchen. Es gab kein Zurück. Hin und her gerissen fühlte er sich – zwischen dem jugendlichen Freiheitsgefühl und dem türkischen Traditionsbewusstsein, das ihm von kleinauf eingebläut wurde. Längst fühlte er sich nicht mehr nur seinem Vater verpflichtet. Auch die Ehre seiner Braut und ihrer Familie durfte er nicht beschmutzen. Die Auflösung der Verlobung wäre eine Schande für alle gewesen. Die Hochzeitsnacht, in der sich das Paar erstmals körperlich näher kam, war für Ahmet ein Grauen. Er fühlte sich nicht hingezogen zu seiner Angetrauten. Er ließ es über sich ergehen.
Seit mehr als zwanzig Jahren ist Ahmet nun mit der Frau zusammen, die sein Vater für ihn ausgesucht hat. Sie haben zwei Kinder bekommen. Sie sollen nicht erfahren, dass ihre Eltern sich nicht lieben. Dass Ahmet seine Frau nie heiraten wollte, wird in seiner Ehe totgeschwiegen. Fremdgehen will Ahmet nicht, sagt er – Ehrensache. Er arbeitet viel. Nach Hause zu kommen bedeutet für ihn, in eine Scheinwelt einzutreten. Er versucht es zu verdrängen. Doch dann gibt es da diese Momente, in denen das nicht mehr geht.
Wie vor einigen Monaten, als die Bundesregierung mehrere Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht hatte. Dass unfreiwillige Eheschließungen ein eigener Straftatbestand werden sollen, hat Ahmet verfolgt. Er macht sich jedoch wenig Hoffnung, dass das anderen Betroffenen viel helfen wird. Oft ist der Druck, den die Familie ausübt, unterschwellig. Wen will man dafür verantwortlich machen? Es gibt Tage, da denkt Ahmet sogar, er sei selbst Schuld daran, wie alles gelaufen ist: „Hätte ich mich wehren können?“, fragt er sich dann immer wieder. Tatsächlich gibt es beim Thema Zwangsheirat eine Grauzone: Wann handelt es sich um eine arrangierte, wann um eine Zwangsehe?
Migrationsforscher sagen, wenn psychischer oder physischer Druck einen Menschen zur Ehe zwingt, handelt es sich um eine Zwangsehe. Ahmet sagt, der psychische Druck sei bei ihm immens gewesen. Heute weiß er, dass sein Leben auch anders hätte verlaufen können. Mit Liebe, mit Selbstbestimmung, mit Freiheit. Ahmet erinnert sich, wie er kurz vor der Hochzeit gegenüber seinem Vater laut wurde. Ein einziges Mal. „Warum hast du mir das angetan?“, schrie er ihn an. Doch eine Antwort hat er nie bekommen. Ahmet hat viele Fragen.
Doch sie werden unbeantwortet bleiben. Vielleicht hätte er heute den Mut, sie zu stellen. Aber sein Vater lebt nicht mehr. Ahmet denkt oft daran, sich jetzt scheiden zu lassen. Doch was würde dann aus seiner Frau? Was aus den Kindern? Ahmet will sie nicht „verraten“. Er hat das Gefühl, den richtigen Moment verpasst zu haben. „Die Zeit vergeht so schnell. Nächstes Jahr sind wir 25 Jahre verheiratet.“ Irgendwann, sagt Ahmet, wird er den Mut haben und seine Frau verlassen. Morgen früh wird er wieder neben ihr aufwachen. Aber übermorgen, da könnte es schon so weit sein.
*Alle Namen von der Redaktion geändert.