Cemal Atakan ist “Der Tiger“. Und der ist ein türkischer Kiezprolet. Oder ein prolliger Kieztürke. Er kennt alle in Kreuzberg und alle kennen ihn. Im Internet erklärt er seine Welt. Und Deutsche und Türken lieben ihn dafür. Im Moment dreht der Tiger täglich für sein Süper-EM-Stüdyo.

Natürlich war er dabei, vor ein paar Tagen, als die Fußballfans den Kudamm einnahmen. Als Deutschland gewonnen hatte, oder die Türkei, egal: Der Tiger liebt beide Mannschaften, und vor allem liebt er Autokonvois. Nicht nur wegen der 3er BMWs, wegen des Feierns und Hupens. Die Konvois, das hat er gerade erst erklärt, sind wichtig für die Jungs aus Kreuzberg.

Für die mit den schwarzen Haaren und den großen Nasen, die in keinen Club reinkommen. Die könnten dort Frauen treffen, heiraten, glücklich sein!, hat er gesagt. Cemal Atakan, der Tiger, war also auf dem Kudamm, und die Leute drehten sich nach ihm um. Tiger, hey Tiger brüllten sie, und einer holte sein Handy, und schrie da herein: Er ist es wirklich. Vielleicht war das der Moment, als dem Tiger so richtig klar wurde, dass er jetzt eine Art Prominenter ist.

Seit zwei Jahre erklärt der Tiger vom Kottbusser Tor aus seine Welt, das heißt: Kreuzberg. Seit 2006 gibt es jeden Freitag neue Videoclips von ihm im Internet, nicht wenige wurden 40000 Mal heruntergeladen. Inzwischen spricht er jede Woche auf Radio Multikulti, und im Theater ist er auch aufgetreten. Auf Schulhöfen von Berlin bis Bayern klingeln Handys mit seiner Stimme. Es gibt Leute, die sagen, der Tiger sei die Berliner Antwort auf Ali G., eine der Kunstfiguren des britischen Komikers Sascha Baron Cohen. Über Stefan und Erkan hat das kaum jemand gesagt.

Täglicher Dreh im EM-Stüdyo

Der Tiger steht auf einem Berliner Hinterhof und schießt auf eine Torwand. Seine Kleider, wie immer: weiße Turnschuhe, Jogginghose, Wollmütze. Nur die Lederjacke hat er vorübergehend gegen Fußballtrikots getauscht. Der Tiger hat zu tun: Spiele kommentieren, tippen, Trainern Ratschläge geben, „Guma, musst du so machen“, sagt er – und trifft. Im Moment dreht der Tiger täglich für sein Süper-EM-Stüdyo. Es gibt einen Menschen hinter dem Tiger, hinter Cemal Atakan, aber der soll geheim bleiben. Trifft man den Tiger, ist er der Tiger.

Der Tiger also ist am Ball, und Murat Ünal, sein Kameramann, Produzent, Manager, spricht. Das machen sie fast immer so. Ünal sagt, es sei wichtig, die Illusion der Figur nicht zu zerstören, daher bleibe der Name dahinter erst mal geheim. Ünal spricht viel über die Authentizität, darüber, den Charakter nicht in eine falsche Richtung zu schicken, damit der Tiger der Tiger bleibt. Darum haben sie schon die ein oder andere Anfrage für Auftritte abgelehnt. Keine Popularität um jeden Preis.

Die Figur: der Tiger, so ungefähr drückt es auch Ünal aus, ist ein türkischer Kiezprolet. Oder ein prolliger Kieztürke. Er macht die meiste Zeit das, was man auf den ersten Blick für Herumstehen halten könnte. Das ist natürlich ein Irrtum. Der Tiger hat es immer wieder erklärt, von der ersten Folge an: Er arbeitet. Er kontrolliert das Tigerland, er hat seine Augen überall, er ist der Manager der Straße. Er kennt alle in Kreuzberg, zwischen Oranienstraße und Schlesischem Tor, und alle kennen ihn.

Er weiß, wie man hier guckt oder besser nicht guckt, auf welcher Straßenseite man läuft und mit welcher Haltung, damit es keinen Stress gibt. Er ist der erste, der erfährt, wenn Touristen im Anmarsch sind oder „Herr Polisai“ gerade wieder jemanden sucht. Er gibt als Chef seiner Tigerbank – die steht gleich um die Ecke, am Erkelenzdamm – Kredite an die, die keine Kredite kriegen. Er vermittelt Geschäfte, meist über KGPA (Konkret-Guter-Preis-Ahmed), der hat viele Cousins und die haben Kontakte. Er erklärt, warum Hartz IV schön macht und was zum Erfolg bei „gute Mädschen“ führt. Und gibt es Probleme, hat der Tiger die richtige „Teknik“, um sie zu lösen.

Zweigeteilte Welt

Das meiste in Tigers Welt findet in Gegensätzen statt: Gut und Böse. Korrekt oder falsch. Frauen mit oder ohne Abitur. Kreuzberg oder „Zehlendorfsteglitzwilmersdorf“. Ein Teil dieser Welt liegt im Halbschatten – dort finden Abziehmeisterschaften statt, dort ist Boxen-Können wichtig, dort lauert Gewalt, ist „Touristentennis“ ein Sport.

„Der Tiger ist vielleicht nicht politisch korrekt“, sagt Murat Ünal. Erstaunlicher aber ist: Er ist fast das Gegenteil – und funktioniert trotzdem. Der Tiger muss nicht ständig Tabus brechen, um lustig zu sein. Ihm reicht die leichte Überzeichnung der Wirklichkeit. Und gerade das unterscheidet ihn von anderen Comedians – besonders von denen, die Figuren mit sogenanntem Migrationshintergrund darstellen.

Ihre ursprüngliche Idee, sagt Ünal, war nicht zu provozieren, sondern einen „Character“ zu schaffen, der ihnen selbst Spaß macht. Und solche Typen wie Tiger, die gebe es einfach im türkischen Milieu: „Jeder kennt so jemanden“. Typen, die breitbeinig und großmäulig im Kiez herumstehen und die Welt erklären.

Für Ünal und den Tiger war von Anfang an klar, dass es Themen gab, an die sie nicht explizit rühren wollten: Religion zum Beispiel, oder Politik. Die polarisierten zu stark. Vielleicht lag es ein bisschen an dieser Vorsicht, dass der Erfolg des Tigers ein langsamer war. Als sie die Figur vor Jahren zum ersten Mal bei Produktionsfirmen und Fernsehsendern anboten, waren die nicht wirklich interessiert. MTV fand ihn zwar ganz nett, aber richtig anzufangen wussten sie mit dem Tiger nichts. Dabei war es die Zeit, als die Sender Serien wie „Türkisch für Anfänger“ ausprobierten, Kayar Yanar bekannt wurde und Erkan und Stefan noch Erfolge feierten.

Eigentlich eine gute Zeit für türkische Comedians. Aber für den Tiger begann die gute Zeit erst im Internet. Die Fangemeinde wuchs schnell. Und vor allem: unter dieser Gemeinde waren türkische und deutsche Fans. Das war insofern neu, als sich gerade die „türkische Community“, das erzählt auch Ünal, mit den anderen Comedy-Formaten schwer getan hatte. Auch, weil hinter den vermeintlich türkischen Figuren oft genug gar keine Türken standen. „Da fehlte einfach die Authentizität“, sagt Ünal.

Er steht auf, der Tiger rückt sich seine Mütze zurecht, knapp über den Augen muss sie sitzen. Sie müssen jetzt die nächste Folge drehen. Die beiden haben inzwischen eine kleine Produktionsfirma, produzieren Musikclips, schreiben Drehbücher. Aber im Mittelpunkt bleibt der Tiger. Das Süper-EM-Stüdyo im Hinterhof ist improvisiert, viel Mittel haben sie immer noch nicht. Aber viel Enthusiasmus. Ünal hievt die Kamera auf die Schultern, der Tiger geht in Position. Drehen sie auf der Straße, müssen sie inzwischen sehr früh aufstehen. Zu viel Fans. Wenn man ihnen beim Drehen zusieht (konzentriert, routiniert), weiß man sofort, dass das nicht nur so daher gesagt war: Dass sie selbst am meisten Spaß an ihrer Figur haben. Und selbst auf die Gefahr hin, dass das dem Ruf des Tiger schadet: Es ist nicht schwer ihn gern zu haben.

Geschichten mit tragischen Helden

Es ist noch gar nicht so lange her, dass jemand über den Tiger schrieb, er verkörpere das Geltungsbedürfnis von Minderheiten, das Extreme, das Kompromisslose. Aber das stimmt nur zum Teil. Eigentlich ist der Tiger das Gegenteil von böse. Im Grunde ist der Tiger eine fast rührende Figur. Mit Herz. Und Talent zum Geschichten erzählen.

Er kennt viele Geschichte aus dem Kiez, mit tragischen Helden und dramatischen Wendungen. Von Terror-Mehmet zum Beispiel, der jeden Tag Feuerwerk zündete, weil sein Leben ein nicht endendes Sylvester sein sollte. Selbst der Sozialarbeiter Dieter konnte ihn kaum davon abhalten. Oder von Botox-Belma, deren Schönheitsoperationen die Hoffnung auf eine Karriere als Nachrichtensprecherin endgültig zunichte machten. Und vor allem die von U-Bahn-Umut, der als Aufpasser bei Drogengeschäften am Kottbusser Tor von einer Bahn erwischt wurde: „Dann war von U-Bahn-Umut nur noch sein Name übrig. Körper weg. Traurige Geschichte. Aber is Kreuzberg, gibs auch traurige Geschichten, weissu.“

Es gibt eine Art Pendant zu Tiger aus Hamburg, es heißt „Buddy Önür“, feiert ebenfalls Erfolge – und ist tatsächlich böse, oft zumindest. Gegen ihn wirkt der Tiger fast wie eine romantische Figur, wie der Vertreter einer früheren Generation. Wie jemand, der mit den jüngeren Migranten vielleicht gar nicht mehr so viel gemein hat. Die gute Nachricht ist: Gerade unter diesen Jungen, „die Kids“, sagt Murat Ünal, genießt der Tiger Kultstatus.

Der Tiger tritt am Sonnabend, 21.06.08, im Engelbrot Theater mit seiner Stand-Up-Comedy-Show „Abziehaopfazbodysolariummadschen“ auf. Beginn 20 Uhr, Eintritt 15, ermäßigt 10 Euro. Alt Moabit 48, Tel. 397 43 102