„Ich hätt’s gut gefunden, wenn die uns Nachbarn mal eingeladen hätten“, sagt Gerd Glanze. Der grauhaarige Souvenirverkäufer steht in seiner kleinen, mit Graffiti besprühten Bude an der East-Side-Gallery und wartet auf Mauer-Touristen. Der Nachbar, von dem er spricht, heißt Anschutz Entertainment Group und hat vor einem halben Jahr auf der anderen Seite der Mühlenstraße die O2 World eröffnet – Berlins neue Megahalle mit Platz für bis zu 17.000 Zuschauer. Nicht nur im Vergleich zu Glanzes Souvenirbude spielt das 165 Millionen Euro teure Gebäude in einer für Friedrichshain-Kreuzberger Verhältnisse bislang unbekannten Liga. Auch sportlich sorgt das Ufo für eine neue Dimension.
Wer die Eisbären in der O2 World sehen will, muss sich inzwischen am besten langfristig orientieren. Die letzte Partie vor den am Donnerstag beginnenden Play-offs in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) gegen Frankfurt war seit mehr als zwei Wochen ausverkauft. Die Eisbären sind mit dem Umzug in die neue Arena zu einem echten Zuschauermagneten geworden. Und mehr als das. „Wir sind Berlins Team“, sagt Geschäftsführer Billy Flynn. Früher, da war der EHC vor allem die Mannschaft aus und für Hohenschönhausen. Im kleinen, antiquierten Wellblechpalast (4695 Zuschauer) spielten die Berliner vor ihrem Stammpublikum und kamen nie von ihrem Kiezclub-Image los. In der neuen Wirkungsstätte locken die Eisbären pro Spiel gut 14.000 Zuschauer an.
Mit dem Umzug gelang der Sprung in die Mitte der Stadt aber nicht nur geografisch. Wo sich einst auf den Rängen fast nur Publikum aus dem Osten der Stadt tummelte, sitzen nun auch viele Gäste aus dem Westteil Berlins. „Wir lagen zuletzt bei einem Verhältnis von 60 Ost zu 40 West“, sagt Flynn. Auch für die Basketballer von Alba Berlin hat sich der Wechsel von der Max-Schmeling-Halle in die O2 World gelohnt. Die Zuschauerzahl in dieser Saison liegt bei durchschnittlich 10.503 – das sind 48 Prozent mehr als in der letzten Saison. Die Halle ist damit immerhin zur 71 Prozent ausgelastet.
Veranstaltungsriese im Niemandsland
Während die Rechnung für die Anschutz-Gruppe nach Bekunden ihres Europa-Chefs Detlef Kornett also sowohl sportlich als auch wirtschaftlich aufgegangen ist, wirkt die Anbindung an die Umgebung noch reichlich sporadisch. Die Distanz zu den Nachbarn manifestiert sich auch räumlich. Denn noch ist der Veranstaltungsriese ein Solitär inmitten von Parkplätzen und provisorisch angelegten Rasenflächen. Die Dimensionen der 160 Meter breiten, 130 Meter langen und 35 Meter hohen Arena wirken durch den leeren Raum besonders wuchtig. Das soll sich noch in diesem Jahr ändern.
„Wir rechen damit, noch 2009 weitere Bauvorhaben bekannt geben zu können“, sagt Detlef Kornett. Auf dem Baufeld an der Multifunktionshalle in Richtung Warschauer Straße soll ein Hotel- und Kongresszentrum entstehen. „Wir führen konstruktive Gespräche mit Projektentwicklern“, hält sich Kornett mit Details zurück. Den Gegnern der Bauvorhaben entlang der Spree wird er damit jedoch nicht den Wind aus den Segeln nehmen – vermutlich wird sogar das Gegenteil der Fall sein. „Die Arena gibt einen Vorgeschmack auf das, was hier noch geplant ist“, sagt Carsten Joost, der mit seinem Verein „Mediaspree versenken!“ zu den hartnäckigsten Kritikern der Halle gehört. Die O2 World sei ein bauliches Zeugnis, das die Leute „unverändert entsetzt“. Daran werde sich auch nichts ändern, wenn die Halle mit weiteren überdimensionierten Gebäuden eingerahmt werde.
Die Senatsverwaltung hatte dem Bezirk in der vorletzten Woche angedroht, die Planungen im Entwicklungsgebiet Mediaspree an sich zu ziehen, sollte geltendes Baurecht missachtet werden. Im Falle der O2 World eine überflüssige Drohung. Denn ausgerechnet hier scheiterten die Mediaspree-Gegner, die den nach dem erfolgreichen Bürgerentscheid im Sommer 2008 eingerichteten Sonderausschuss dazu nutzen wollten, die zulässige Bebauung auf dem Anschutz-Areal – mit einer Gesamtnutzfläche von 700.000 Quadratmeter – um ein Drittel zu kürzen. Die Bezirksverordneten-Versammlung hatte im Dezember erstmals einen Prüfauftrag dieses Gremiums mehrheitlich abgelehnt. Die Ablehnung sei „ein kleiner Schock“ gewesen, räumt der Aktivist ein. Der arbeitslose Architekt hofft nun ausgerechnet auf die Finanzkrise: „Es gibt doch aktuell gar keine Nachfrage nach weiteren Gebäuden, da werden Anpassungen unvermeidlich sein.“ Kein Mensch brauche die fünf Hochhäuser, die im Bebauungsplan vorgesehen sind.
Der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz dagegen sieht die Diskussion um die weitere Bebauung des Anschutz-Areals nach dem BVV-Veto nunmehr als „beendet“. Natürlich gebe es vor allem junge Menschen, die sich weder mit der Halle noch mit dem, was in ihrem Inneren geboten werde, anfreunden könnten. „Aber mein Eindruck ist, dass ein Großteil der Bevölkerung die Halle inzwischen akzeptiert“, sagt der Bürgermeister.
Demo gegen Bierpreise
Während es im Umfeld der Arena noch reichlich Reibungspunkte gibt und der private Wachschutz unentbehrlich bleibt, um Graffiti und schlimmeren Vandalismus an der Halle zu verhindern, ist man auch im Inneren des Mikrokosmos O2 World nicht frei von Problemen. Offen protestierten etwa die Fans gegen Qualität und Preise des Caterings in der Arena. Sogar einen Demonstrationszug hatte es gegeben. „Wenn man oft zu den Eisbären geht, belastet das den Etat schon sehr“, beklagt Ingo Schröter (46), der bereits frührer im Wellblechpalast Stammgast war. Immerhin ist der Verein den Fans entgegengekommen, sie können seit kurzem einen Verzehrbon im Wert von 60 Euro für 50 Euro erwerben. Viele besorgen sich jedoch lieber beim Kiosk auf der Warschauer Brücke ihr preiswertes Bier und treffen sich unter der Brücke schon mal zum kollektiven „Vortrinken“.
Von den Fans, die ihren Durst und Hunger lieber in der Umgebung stillen – das billigste Bier in der O2 World kostet im 0,4-Liter-Becher 3,60 Euro – profitiert auch das Restaurant im Speicher an der Mühlenstraße. „Die Eisbärenfans kommen, bei Tina Turner lief es auch gut“, sagt Anne. Die 19-Jährige Auszubildende ist im zweiten Lehrjahr und hat festgestellt: „Für uns ist die Arena eine gute Nachbarschaft.“
Gleich nebenan im „Eastern Comfort Hostel Boat“ wagt man noch keine abschließende Prognose, ob die O2 World nun gut oder eher schlecht fürs eigene Geschäft ist. „Wir hatten zwar eine Handvoll Kunden, die nach Konzerten oder anderen Großevents in der Arena bei uns übernachtet haben“, sagt Jens Wiege, der stellvertretende Geschäftsführer des Herbergs-Schiffes. „Andererseits leben wir von Rucksacktouristen, und die suchen hier das alternative Flair“, sagt Wiege und blickt von der Bootsterrasse auf der Spree nachdenklich zur riesigen Werbetafel an der Anschutz-eigenen Anlegestelle herüber. Wiege will nun erst mal abwarten, wie sich das Leben an der Spree im Sommer entwickelt, bevor er urteilt. Solch besonnene Töne sind noch immer selten an der O2 World, wo man sich von Punkern mit Hundemeute im Schlepp schon mal fragen lassen muss, warum man denn ausgerechnet diesen „Kotzbrocken“ – gemeint ist die Halle – fotografiere.
Uneingeschränkt positiv hat sich jedenfalls die O2 World als Job-Maschine für den an Arbeitsplätzen nicht reichen Bezirk erwiesen. „890 Voll- und Teilzeitjobs“ sind nach Auskunft Kornetts entstanden und bis auf wenige Ausnahmen an Arbeitslose aus Friedrichshain-Kreuzberg vergeben worden.
Dass die Mediaspree-Gegner über die „Billigjobs“ ätzen, ist der Verkäuferin am Ticket-Schalter „egal“. Die Mittvierzigerin aus Kreuzberg ist froh, dass sie „endlich eine reguläre, unbefristete Arbeit“ habe. Ihren Namen will sie lieber nicht verraten. Es müsse ja nicht jeder in der Nachbarschaft wissen, wo sie arbeitet.
Die Anschutz-Gruppe hat in den ersten sechs Monaten seit der Eröffnung ein beachtliches Tempo vorgelegt. Seit dem 10. September kamen zu den knapp 90 Veranstaltungen rund 900.000 Zuschauer. Die Veranstaltungsprognose des Europa-Chefs Kornett – 300 Events in den ersten drei Jahren – sollte bei dieser Steilvorlage locker zu meistern sein. Metallica, Leonard Cohen, Coldplay, Alicia Keys, die Toten Hosen und Herbert Grönemeyer standen im einstigen Niemandsland auf der Bühne. Bei „Wetten, dass?“ und der „Echo“-Verleihung hat die Halle deutschlandweit ihre TV-übertragenen Event-Qualitäten bewiesen. In den kommenden Wochen folgen Pink, Lionel Richie, James Last und Beyoncé. Die glitzernde Welt der Stars aus Sport und Show hat hinter der halbrunden Leuchtfassade auf der Brache des ehemaligen Güterbahnhofs Einzug gehalten. Ein Wunder, das wohl die wenigsten erwartet hätten. Auch, wenn es nicht allen gefällt.