Morgenpost Online: Herr Nachama, brauchen wir einen Bundesbeauftragten zur Bekämpfung von Antisemitismus? Dies wird gerade im Bundestag diskutiert. Erst am Sonntag wurde auf Rabbiner Yejuda Teichtal und acht seiner Schüler ein Anschlag verübt.
Andreas Nachama: Da so intensiv diskutiert wird und man immer wieder von Vorfällen liest, zeigt das schon, dass es einen Bedarf für einen Beauftragten der Bundesregierung gibt. Ich halte das auch für eine sinnvolle Überlegung. Die politischen Entscheidungsträger aber müssen auch sagen, wie sie das Amt organisieren wollen. Es muss eine Struktur, ein Büro geben. Dann macht es auch Sinn. Das schützt dann nicht nur Juden, denn es gibt auch Antisemitismus ohne Juden, zum Beispiel in Brandenburg.
Morgenpost Online: In diesem Jahr jährt sich der 9. November 1938 zum 70. Mal. Welchen Begriff sollte man benutzen, um dem Ereignis gerecht zu werden - und warum? Es gibt den Begriff der Kristallnacht, der sogenannten Reichskristallnacht, der Reichspogromnacht und schließlich des Novemberpogroms.
Nachama: Ich selber benutze den Begriff Novemberpogrom, denn Kristallnacht ist eher verharmlosend. Es ist damals mehr als Kristall kaputtgegangen. Es wurden Menschen erschlagen und es wurde nahezu die gesamte synagogale Kultur zerstört. Der Begriff Reichspogromnacht hat sich 1978 herausgebildet. Ich finde ihn ebenso wie Reichskristallnacht problematisch, weil die Dinge ja nicht nur vom 9. auf den 10. November 1938 passiert sind, sondern fortgesetzt wurden und in Kassel bereits vor dem 9. November anfingen. Daher finde ich, dass der Begriff "Novemberpogrom" das Datum gut abdeckt.
Morgenpost Online: Der 9. November ist ein deutscher Gedenktag verschiedener Ereignisse (Ausrufung der ersten deutschen Republik 1918, Novemberpogrom 1938, Fall der Mauer 1989). Läuft das eine dem anderen Gedenken den Rang ab?
Nachama: Ich würde das nicht überbewerten. Das hängt von den Jahrestagen ab. Im nächsten Jahr zum 20. Jahrestag des Mauerfalls wird es andersherum sein. Das hängt auch immer von der jeweiligen Gewichtung ab. Ich glaube nicht, dass der 9. November 1938 als Eckpunkt der Barbarei in der Rückbetrachtung verloren geht.
Morgenpost Online: Zu Jahrestagen werden fast inflationär historische Ereignisse thematisiert. Ist das immer vorteilhaft oder fördert es den Überdruss?
Nachama: Ich finde das Gedenken an Jahrestagen in Ordnung. Es gibt ja nicht jedes Jahr runde Jahrestage. Sie bringen besondere Aufmerksamkeit, Geschichte wird in dieser zyklischen Betrachtung interessant. Man fragt sich, was ist daraus geworden, was hat sich verändert. Das kann man auch 70 Jahre danach tun.
Morgenpost Online: Hat sich denn etwas verändert in den zurückliegenden Jahren?
Nachama: Ich denke schon. Es war nicht nur Kristall, was kaputt geschlagen wurde, sondern es wurde gemordet. Das war ein Eckpunkt der Barbarei, weil es vor aller Augen abgelaufen ist. Das charakterisierte die NS-Herrschaft. Es passierte eben nicht nur im abgeschotteten Auschwitz hinter Stacheldraht, sondern in jeder Stadt vor den Augen aller.
Morgenpost Online: Heißt das, dass viel zu wenig an die Täter und Dulder und wie es dazu kommen konnte erinnert wird?
Nachama: Wir zeigen ja, wie wenig Prozesse geführt worden sind. Dass diese Frage jetzt aufkommt, wo die Täter aussterben, ist interessant.
Morgenpost Online: Warum?
Nachama: Die Frage tut niemandem mehr weh.
Morgenpost Online: Nicht nur die Täter, auch die Opfer sterben aus. Mit den Zeitzeugen geht der Erinnerungskultur eine wichtige Quelle, die das Mitfühlen erleichtert, verloren. Wie kann das ersetzt werden?
Nachama: Das tut die Gesellschaft schon von ganz allein. Nehmen Sie zum Beispiel die Textinstallationen "Orte des Erinnerns- Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden 1933 bis 1945" im Bayrischen Viertel. Hier kommt Geschichte zum Vorschein. Man weiß es letztlich. So ist eben Geschichte. Sie lebt zunächst vom Dialog mit den Zeitzeugen und dann mit der schriftlichen Erinnerung. Wenn das spannend vermittelt ist, bleibt Geschichte lebendig.
Morgenpost Online: Glauben Sie, der 9. November 1938 ist den Deutschen noch ein Begriff oder gerät er in Vergessenheit und wird überdies vor dem Hintergrund des 9. November 1989 verdrängt?
Nachama: Das glaube ich nicht. Es wird einzelne Jahre geben, wo das eine oder andere im Vordergrund steht. Aber Geschichte ist stark genug. Man sieht es allein nur an den 500 000 Besuchern der Topographie des Terrors im Jahr. Die kommen zu 95 Prozent freiwillig. Das ist erfreulich.
Morgenpost Online: Sie haben zum 70. Jahrestag des Novemberpogroms ein wissenschaftliches Symposium vorbereitet. Warum, gibt es neue Erkenntnisse?
Nachama: Erstens bietet sich das nach 20 Jahren an. In den vergangenen Jahren ist wenig Sensationelles zum Novemberpogrom erschienen, aber es sind doch viele Details erforscht worden. So erschien es uns sinnvoll, Bilanz zu ziehen, und ich denke, wir haben interessante Beiträge gefunden. Es haben sich bereits mehr als 100 Leute zum Symposium angemeldet. Es wird sicher interessant werden.
Morgenpost Online: Wie hat sich jüdisches Leben in den vergangenen Jahren wieder in Berlin entwickelt? Was überhaupt ist jüdisches Leben?
Nachama: Der Kern jüdischen Lebens sind die Synagogen, das religiöse Leben. Das kann man schon so sagen. Drumherum gibt es mehr oder wenige mit der Gemeinde verbundene Satelliten. Das reicht von Kultur bis hin zur reinen Erinnerungsarbeit und Antisemitismusbekämpfung durch Aufklärung. Das zeigt, dass jüdisches Leben in einer säkularen Gesellschaft sich auch säkular und nicht nur religiös darstellt. Im Kern aber sind es die Synagogen, die jüdisches Leben ausmachen.
Morgenpost Online: Hat sich jüdisches Leben in den vergangenen Jahren verändert?
Nachama: Es gibt eine Entwicklung. Ich glaube, dass die unterschiedliche Ausrichtung einzelner Synagogen bunter geworden ist als vor zehn bis 15 Jahren.
Morgenpost Online: Eine letzte Frage. Ist Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen?
Nachama: Wenn Kritik an Israel als Messlatte für Antisemitismus angesetzt würde, dann säßen die größten Antisemitten in Israel. Schließlich kritisieren viele Israelis ihren Staat. Das ist ja auch legitim. Aber so einfach kann man es sich nicht machen. Es gibt hier bei uns gedankenloses Dahersagen ungerechtfertigter Kritik an Israel, die dann schon in den Übergangsbereich zum Antisemitismus hereinreicht. Zum Beispiel, wenn israelische Soldaten als Stürmer-Figuren gezeichnet werden. Das hat nichts mit Israel-Kritik zu tun, sondern das ist Antisemitismus. Ich will nicht bewerten, wie viel der Israel-Kritik als antisemitisch einzuschätzen ist. Es ist schlimm genug, dass es antisemitische Israel-Kritik gibt.