Gewalt, Drogen, Kriminalität

Die verlorenen Jungs von Neukölln

| Lesedauer: 10 Minuten
Jennifer Wilton

Güner Yasemin Balci war Sozialarbeiterin in Neukölln. Nun hat sie ein Buch geschrieben über die "harten Jungs" aus dem Rollbergkiez, deren Leben bestimmt ist von Gewalt, Drogen, Kriminalität, Arbeitslosigkeit . Ein Klischee? Wer das Berliner Problemviertel kennt, der sagt: Genau so ist es. So wie Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky.

Wie, wann alles anfing, das ist natürlich schwer zu sagen. Vielleicht in der ziemlich kalten Nacht, in der Rashid mit seiner Mutter und den Geschwistern barfuss auf der Straße stand, auf der Flucht vor dem prügelnden Vater, und abschätzige Blicke erntete. Oder ein paar Jahre später, an dem Tag, an dem er den kleinen Bruder eines Widersachers in der Tiefgarage brutal misshandelte, und sich dabei zum ersten Mal als Sieger fühlte. Vermutlich war es aber noch früher und noch komplizierter. Einfacher ist es mit dem Wo: Rashids Karriere zum Kleinkriminellen, Großkriminellen, Drogensüchtigen, Abschiebehäftling fing in Neukölln an. Im Rollbergviertel, jener tristen 70er-Jahre-Neubaulandschaft zwischen Hermann- und Karl-Marx-Straße, in der drei Dinge gut gedeihen: Gewalt, Hoffnungslosigkeit - und "harte Jungs" wie Rashid.

Eine düstere Geschichte

Rashid ist der Protagonist des eben erschienenen Buchs "Arabboy" der deutsch-türkischen Journalistin Güner Yasemin Balci. Seine Geschichte vom Flüchtlingssohn zu dem, was im Nordneuköllner Milieu "Megachecker" heißt, bei der Bezirksverwaltung "Störpotential", ist ungefähr so düster wie das schwarze Cover des Bandes - und erfunden ist sie nicht. Die Namen, ein paar Orte, wenige Details hat Güner Balci verändert, um sich und andere zu schützen, sonst nichts. Sonst ist alles genau so passiert, sagt sie. Die Gewaltexzesse auf der Straße und in den arabischen Familien, die selbstverständliche Kriminalität und Arbeitslosigkeit, Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Drogen. Die Hilflosigkeit derer, die da einschreiten wollen. Das sei die Realität des Viertels, sagt Güner Balci.

Sie hat sie selbst erlebt: Balcis Eltern kamen in den sechziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland, sie wuchs in der Rollbergsiedlung auf. Sie hat dort später neben dem Studium jahrelang als Sozialarbeiterin gearbeitet. Sie kennt die Jugendlichen, die sie "harte Jungs" nennt, die Familien, den Alltag. Sie hat den Absturz von Rashid, Sohn libanesisch-palästinensischer Flüchtlinge, mit angesehen.

Die Realität, das muss sie oft sagen. Manchmal habe sie Leute vor sich sitzen, die das einfach nicht wahrhaben wollten, was dort passiere, sagt sie. Ein bisschen hat sie das Buch vielleicht auch deswegen geschrieben. Dass man ihr Überzeichnung vorwerfen könnte, damit hat sie gerechnet. Könnte man: Klischeehaft etwa die Lehrerin, die sich in der durchsichtigen Chiffonbluse über den sechsjährigen Moslem beugt und ihm eine Zukunft in der Dönerbude prophezeit. Plakativ die ständige Präsenz von Sex und Gewalt, gerne von den Jungen auf Handys mitgeschnitten.

"Hoffentlich wird das ein Aufreger!"

Güner Balci hat darauf immer die gleiche Antwort: Sie habe nur aufgeschrieben, wie es war. Nicht nur sie sagt das. Als das Buch vor ein paar Tagen in der Urania vorgestellt wurde, kamen Menschen aus dem Rollbergviertel, einige standen nach der Lesung auf, andere murmelten vor sich hin: Genau so ist es. Auch Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky war da, und auch der nickte, immer wieder.

Ohnehin war Buschkowsky ziemlich gut gelaunt für einen Bezirksbürgermeister, dessen Bezirk gerade in den dunkelsten Farben geschildert wurde. Güner Balci sagt, sie sei vorher ein bisschen unsicher gewesen, wie er reagieren würde, ob er ihr das übel nehmen würde. Nimmt er nicht. Wer Widerspruch erwartete, wurde enttäuscht. Buschkowsky ist glücklich über dieses Buch. Weil es helfen könne, die Gesellschaft, die Politik aufmerksam zu machen auf die Probleme. Da würde ja immer gedacht, sagt er irgendwann im Laufe des Abends, dass sich das irgendwie zurechtrütteln würde. "Aber da rüttelt sich gar nichts von allein!". Und: "Hoffentlich wird das ein Aufreger! Lesen Sie das!"

Dann will er unbedingt die Passage mit den Sozialarbeitern hören. Die Sozialarbeiter seines Bezirks. Die eigentlich irgendwann eingesetzt wurden, um Sachen besser zu machen.

Mit brennenden Zigaretten gefoltert

Zum Beispiel Oliver. Alle dürfen ihn Olli nennen, und wenn Olli richtig sauer ist, dann sagt er "Das finde ich echt scheiße", aber nicht zu laut. Ansonsten lässt er die Jungen, die ihn nicht Olli sondern Opfer nennen, weitgehend in Ruhe und beschäftigt sich vor allem damit, die Berichte für das Jugendamt optimistisch zu formulieren. Das klingt erst sehr lustig, ist es aber nicht. Denn dass die Sozialarbeiter von den Jugendlichen gar nicht wahr- und ernst genommen, Jugendzentren - im besten Fall - als Internetcafés, im schlechteren als Lager für Hehlerware genutzt werden, die Landverschickung der Neuköllner Jungs zur Farce mit fatalen Folgen für die Tiere gerät, ist noch nicht einmal das Schlimmste. Am Ende kapitulieren selbst die türkischen und arabischen Streetworker, auf die mal viel Hoffnung gesetzt wurde: In einem Kapitel trifft es den Türken Bilal, der versucht, die Jungen zur Ordnung zu rufen - er findet sich an einen Stuhl gefesselt wieder und wird mit brennenden Zigaretten gefoltert. Kein Ausweg, nirgends.

Güner Balci fühlte sich auch bedroht, manchmal. Vor einem Jahr ist sie schließlich weggezogen aus Neukölln. Mit der Arbeit in einer Jugendeinrichtung hat sie vorher aufgehört, kurz nachdem eine Kollegin angegriffen wurde und sie ihr nur mit Gewalt helfen konnte. Es war ohnehin ein ständiges Kämpfen, sagt sie. "Aber es war auch nicht immer nur schrecklich". Man erreiche ja etwas. Lerne, wie die Jugendlichen tickten. Und wie man sich Respekt verschaffen könne. Nicht alle sind "harte Jungs", nicht alle hoffnungslose Fälle wie Rashid. Aber gerade denen wollte sie mit ihrem Buch eine Stimme geben.

Vielleicht nicht die Stimme, die Gesten aber scheinen dabei gar nicht so unbekannt. Neukölln hat es oft genug in die Schlagzeilen geschafft in den vergangenen Jahren. Bilder von Jungen in Kapuzenpullis an heruntergekommenen Straßenecken, um Begriffe wie gescheiterte Integration oder Parallelgesellschaft zu illustrieren. Da waren immer wieder Kamerateams aus Hamburg oder München, die hierher kamen, und sie durchaus zu Gewaltposen animierten, wenn die nicht von allein kamen.

Als das Milieu kippte

Ja, sagt Güner Balci, das kam vor. Aber oft sei das sehr oberflächlich geblieben. Und, schickt sie schnell hinterher, das sei auch nicht unbedingt die Schuld der Journalisten. Man braucht Zeit, um zu verstehen, wie das Viertel funktioniert. Wie das Leben hier abläuft. Und damit die Jungen überhaupt mit einem reden. Vielleicht muss man eine von hier sein.

Natürlich machte es schon für ihre Arbeit als Sozialarbeiterin etwas aus, dass Güner Balci irgendwie eine von Ihnen war. Eine, die im Viertel aufgewachsen war, die dessen Sprache kannte. Und die es geschafft hatte: das Abitur, ein Studium. Heute, mit 33, ist Güner Balci ZDF-Redakteurin. Und im Grunde ist sie das beste Beispiel dafür, dass es nicht so laufen muss wie bei den Jungs aus ihrem Buch.

Es war eine andere Zeit, als sie aufwuchs, sagt sie. Eine Zeit, in der die Jugendeinrichtungen noch mit viel mehr Geld ausgestattet waren, mit Pädagogen, und nicht nur mit Aushilfen. Es gab damals deutlich mehr Deutsche im Rollbergviertel, und es war durchaus normal, Arbeit zu haben. "Das Milieu ist immer mehr gekippt, später". Und: Güner Balci hatte Eltern, die sie ermutigten, mit Deutschen Kontakt zu haben, in die Schule zu gehen, zu lernen. Brüder, die sie beschützen, ohne einzuengen.

Sie glauben: Wer am kräftigsten zuschlägt, gewinnt

Sie sagt, manchmal helfe es schon, die Jungen ernst zu nehmen, sie als Individuen zu behandeln. Das macht sie auch in ihrem Buch, mit Rashid. Als Sympathieträger eignet er sich nicht. Und doch gelingen Balci ein objektiver Blick, der nicht verharmlost, und Momente, in denen ganz vage verpasste Chancen aufzublitzen scheinen.

Es gibt Hinweise in ihrem Buch, wie, wann alles anfängt im Rollbergviertel. Die ständige gegenseitige Überwachung der arabischen Klans, die Isolierung von den Deutschen, der brutale Umgang schon in den Familien, die überforderten Eltern, der Gruppenzwang unter den Jungen. Der Glaube, dass der, der am kräftigsten zuschlägt, gewinnt. Sie wisse auch keine Patentlösung, sagt Güner Balci. Sie wolle nur erzählen, wie es ist. Denn besser wird es im Rollbergviertel nicht, schon gar nicht von alleine. Irgendwann würden da richtige Ghettos entstehen.

Manchmal ist Güner Balci noch dort, trifft einige der "Jungs" auf der Straße. Sie sind älter geworden. Und nicht selten nur auf Hafturlaub. Einer hat gefragt, ob man sie wiedererkennen würde, in dem Buch. "Arabboy" hat sich herumgesprochen im Kiez. Nein, hat sie gesagt. Da war er beruhigt. Aber lesen, sagt Balci, würden die Jungs sowieso nicht. Einen trifft sie nicht mehr: Rashid. Er wurde abgeschoben, da war er noch nicht lange volljährig, zu Verwandten, in die Türkei. Vielleicht war das nicht so schlecht, heißt es irgendwann im Buch, denn sonst wäre er seinem ehemaligen Chef, einem Zuhälter, in die Hände gefallen. Aber auch das neue Leben wird ihm dort, in dem fremden Land, nicht gelingen.

Güner Yasemin Balci: Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A., Fischer, 288 Seiten, 14,90 Euro