Steigende Mieten sind das Wahlkampfthema in Berlin. Aus gutem Grund: Die Preise ziehen deutlich an, der Wohnraum in der Stadt wird wieder knapp.
Kaya Özkök hat nur kurz Zeit, seine Regenjacke an den Haken zu hängen und hinter dem kleinen Schreibtisch in dem karg eingerichteten, lindgrün gestrichenen Raum Platz zu nehmen. Dann geht es auch schon los. In den kommenden zweieinhalb Stunden wird sich die Tür zum Sprechzimmer des Rechtsanwalts im Mieterberatungszentrum am Südstern in Kreuzberg nahezu im Zehn-Minuten-Takt öffnen. Die Unterlagen, die ihm die Menschen, die seine Hilfe suchen, auf den Tisch legen, offenbaren das ganze Spektrum des Streitpotenzials, den das Verhältnis zwischen Mietern und Vermietern bereithält. Für den 47-Jährigen ist das keine neue Situation: Seit 1999 arbeitet Özkök als Rechtsberater für den Berliner Mieterverein. Neu ist dagegen der mit Abstand häufigste Grund, der die Mieter zu ihm führt. „Jeder zweite Besucher kommt, weil ihm ein Mieterhöhungsverlangen zugestellt wurde“, sagt Özkök.
Während die „Top Ten der Mietstreitigkeiten“ nach Auskunft des Berliner Mietervereins jahrelang von den Nebenkosten angeführt wurden, hat sich dieses mit der Veröffentlichung des „Berliner Mietspiegels 2011“ spürbar geändert. Der amtliche Mietspiegel, den die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung alle zwei Jahre neu herausgibt, verzeichnet Mietsteigerungen von acht Prozent im Vergleich zu 2009. Er soll den Bewohnern und Eigentümern von rund 1,6 Millionen Wohnungen in der Stadt gleichermaßen dazu dienen, eine angemessene und vor allem rechtlich abgesicherte Miethöhe zu ermitteln. Die Kaltmiete pro Quadratmeter und Monat ist innerhalb der vergangenen zwei Jahre durchschnittlich um 40 Cent gestiegen. Die Miete, die die Berliner im Mittelwert zahlen müssen, beträgt demnach ohne Heizung und Betriebskosten 5,21 Euro pro Quadratmeter im Monat. In begehrten Innenstadtlagen sind es meist deutlich mehr, in weniger gefragten Außenbezirken entsprechend weniger.
Andrang in der Beratungsstelle
„Wir haben insgesamt viel mehr Andrang in der Mieterberatungsstelle. Und die meisten kommen, weil der Vermieter mit Verweis auf den neuen Mietspiegel die Miete erhöht hat“, sagt Heidrun Gabriel, die im Wartezimmer der Mieterberatungsstelle am Südstern schon mal vorsondiert, ob die Hilfesuchenden Mitglieder des Mietervereins sind, welches Anliegen sie haben und ob sie die dafür notwendigen Unterlagen mitgebracht haben. Sie übernimmt auch die schwierige Aufgabe, diejenigen wieder nach Hause zu schicken, die wegen des Andrangs ohnehin keine Chance mehr haben, in der mit zwei Stunden angesetzten sogenannten „offenen Beratung“ an die Reihe zu kommen. „Herr Özkök hängt ja immer schon eine halbe Stunde hinten dran, aber das reicht trotzdem nicht aus“, sagt die 63-Jährige. Mehr als ein Dutzend Gespräche wird der Anwalt an diesem Nachmittag führen. „Mehr ist aufgrund der Komplexität der meisten Fälle nicht drin“, weiß sie aus Erfahrung. Heidrun Gabriel rät den Abgewiesenen, einen festen Beratungstermin zu vereinbaren, um ganz sicher an die Reihe zu kommen.
Mietentwicklung in Berlin:
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Unterdessen hat Mario C. an Kaya Özköks Schreibtisch Platz genommen. Aus einer Plastiktüte zieht der 36-Jährige seine Unterlagen. Statt 394 Euro Warmmiete soll er für die 65 Quadratmeter Altbauwohnung an der Bendastraße in Neukölln ab kommenden Monat 420 Euro zahlen. Da der Quadratmeter Kaltmiete aber rund fünf Euro beträgt, lässt sich daran nicht rütteln: Der Mietspiegel rechtfertigt die Erhöhung für eine Altbauwohnung in dieser einfachen Lage je nach Ausstattung sogar bis zu 6,10 Euro. Der Musiker packt schließlich seine Unterlagen wieder zusammen, er ist enttäuscht. „Ich muss zusehen, dass ich noch weitere Jobs übernehmen kann, damit das Geld reicht.“
Wer in Berlin auf Wohnungssuche ist, kann von einer Miete, wie sie Mario C. zahlt, allerdings nur träumen. Denn am Mietspiegel müssen sich die Vermieter lediglich orientieren, wenn sie die Miete erhöhen wollen. Bei neuen Vertragsabschlüssen können sie dagegen fordern, was der Markt hergibt. Und das sind derzeit rund 20 Prozent mehr als im Mietspiegel ausgewiesen. Die Schwerpunktmiete (die am häufigsten verlangte Miete) liegt nach Auskunft des Immobilienverbandes Deutschland (IVD) in einfachen Berliner Wohnlagen bei monatlich 6,20 Euro pro Quadratmeter – kalt. In den besseren Wohnlagen erreicht sie schon 7,50 Euro. Spitzenmieten werden in der Dorotheenstadt und dem Scheunenviertel in Mitte sowie in den Seitenstraßen des Kurfürstendamms vom Olivaer Platz bis zur Gedächtniskirche erzielt. Sie liegen bei 14,50 Euro.
Bei Mieterberater Özkök hat mittlerweile ein junger Mann mit seiner Großmutter das Zimmer betreten. Auch in diesem Fall stellt sich schon nach wenigen Minuten heraus, dass die Forderungen den Rahmen des Mietspiegels nicht überschreiten und die alte Dame 30 Euro im Monat zusätzlich von ihrer Rente abzwacken muss, um ihre kleine Wohnung am Marheinekeplatz in Kreuzberg zu halten. „Denn Umziehen will ich in meinem Alter nicht mehr“, sagt die 83-Jährige.
Suche nach einem Nebenjob
Das Beispiel ist nur eins von vielen, die zeigen, dass die meisten Mieter – ungern zwar – jedoch bereit sind, die Mieterhöhung zu zahlen. Auch Familie Dräger-Klockow aus Schöneberg hat vor zwei Wochen eine Mieterhöhung erhalten. „Wir sind aber nicht zur Mieterberatung gegangen, ich habe per Online-Abfrage selbst herausgefunden, dass die Mieterhöhung gerechtfertigt ist“, sagt Matthias Klockow. Klockow wohnt mit seiner Frau und den vier Kindern in einem gepflegten Altbau im Hochparterre an der Badenschen Straße. Für die 4,5 Zimmer der Wohnung zahlten der selbstständige Versicherungskaufmann und seine als Erzieherin festangestellte Frau bislang 900 Euro kalt (6,70 Euro pro Quadratmeter).
"Ab Oktober sollen wir 130 Euro mehr zahlen, dass sind 7,62 Euro pro Quadratmeter und damit 14,4 Prozent mehr als bisher“, hat der 46-Jährige ausgerechnet. Zwar weist der Mietspiegel in dieser Lage als Obergrenze 7,34 Euro aus. „Doch Parkett und das hochwertige Bad rechtfertigen die Differenz“, hat Klockow herausgefunden. Bei vier Teenager-Kindern kommt es auf jeden Euro an. Trotzdem will die Familie nicht ausziehen. „In Schöneberg sind die Mietpreise eben so, aber Wegziehen kommt nicht in Frage“, sagt der 46-Jährige.
Die Familie hat jedenfalls ihre Urlaubspläne für das kommende Jahr gestrichen – was nicht nur an den zusätzlichen 130 Euro im Monat liegt, sondern auch an der Betriebskostennachzahlung (100 Euro) sowie der Nachzahlung für Heizung und Warmwasser in Höhe von 400 Euro aus dem vergangenen Abrechnungsjahr. „Ich habe mich schon noch einem Wochenendjob umgeschaut“, sagt Andreas Klockow. Im Landhaus Marienfelde möchte er künftig beim Service im Catering aushelfen. „Das bringt Geld und macht mir außerdem Spaß“, sagt er. Auch wenn Klockow sich und seiner Familie selbst helfen will – Unterstützung erwartet er dennoch auch von der Politik. „Als selbstständiger Unternehmer geht es mir nicht so sehr darum, dass der Senat Einfluss auf die Mietgestaltung nimmt“, sagt der Familienvater. „Ich erwarte von der Politik, dass sie etwas für den Wirtschaftsstandort Berlin tut und dafür sorgt, dass die Kaufkraft der Berliner endlich steigt.“ Der Vergleich mit anderen Großstädten wie Hamburg und München zeige, dass dort noch wesentlich höhere Mieten verlangt werden. „Der Knackpunkt ist aber, dass die Menschen in diesen Städten wesentlich bessere Einkommen haben. Das muss sich in Berlin ändern“, sagt Klockow.
Dass die Mieten in Berlin trotz der deutlichen Steigerungen im Vergleich zu anderen deutschen Millionenstädten weiter als moderat bezeichnet werden können, darauf verweist auch Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Die Durchschnittsmietpreise in Großstädten wie München (2011: 9,79 Euro pro Quadratmeter) und Hamburg (2009: 6,76 Euro pro Quadratmeter, der aktuelle Bericht erscheint erst Ende 2011) geben der Senatorin Recht. Berlin, so Junge-Reyer, bleibe auch weiterhin „die preiswerteste Großstadt in Deutschland“. Die Senatorin verweist vor allem auf die Plattenbausiedlungen mit einfacher Ausstattung im Ostteil der Stadt. Dort bekomme man Wohnungen ab 4,33 Euro (kalt) pro Quadratmeter. Insgesamt betrachtet biete die Stadt also noch günstigen Wohnraum.
Die Einschätzung der Senatorin teilen angesichts der drastischen Kostensteigerungen vor allem in den Innenstadtbezirken immer weniger Bürger. Und sie machen ihrem Unmut inzwischen deutlich vernehmbar Luft. Das bekam die Senatorin zu spüren, als sie Ende Mai den Mietspiegel vorstellte. Konfetti werfende und mit Theatermasken verkleidete Aktivisten stürmten ihre Pressekonferenz. „Wir haben ein Recht auf Stadt, und wir wollen nicht verdrängt werden“, schrie eine Frau. „Die Überflüssigen“, wie sich die Gruppe nannte, ließen auch keinen Zweifel daran, wie sie die Mietenpolitik des rot-roten Senats einschätzen: „Ihr seid verantwortlich für die ganze Scheiße.“
Häuser werden wieder besetzt
Während die Höhe der Mieten bei den Berliner Politikern jahrelang kein Thema war, hat sich das gründlich geändert. Plötzlich hängen in der ganzen Stadt Wahlplakate, in denen etwa die SPD erklärt „Mieter und Schutz“ gehörten für sie zusammen, während die Linke „Mieter vor Wild-West schützen“ will und die CDU die folgende Rechnung aufmacht: „Mieten unter Rot-Rot: +27 Prozent“. Mieterdemonstrationen und Hausbesetzungen – ein Phänomen der frühen 80er-Jahre in West-Berlin, das bereits nach dem Mauerfall im Ost-Teil der Stadt seine erste Renaissance erlebte, sind plötzlich wieder an der Tagesordnung.
So besetzten Mietaktivisten noch am Tag der Pressekonferenz der Senatorin ein leerstehendes Haus an der Schlesischen Straße in Kreuzberg. Die Hausbesetzer hängten Transparente mit Sprüchen wie „Wir sind gekommen, um zu bleiben“ aus den Fenstern. Vor dem Gebäude der privatisierten Wohnungsbaugesellschaft GSW an der Charlottenstraße in Kreuzberg demonstrierten zeitgleich rund 100 Menschen gegen die Mietenpolitik des Senats. „Der Senat sollte sich mehr um Mieter mit unterem und mittlerem Einkommen kümmern, da bei der derzeitigen Mietpreisentwicklung diese Mieter vom Markt verdrängt werden“, wünscht sich auch Berater Özkök. Insbesondere im Bereich des sozialen Wohnungsbaus sei die Situation misslich. Und für diese Mieter gelte noch nicht mal der Mietspiegel, betont Özkök.
Die Situation der Bewohner in den knapp 200.000 Sozialwohnungen in Berlin ist in der Tat besonders prekär. Weil das Land Berlin angesichts der desolaten Haushaltslage im Jahr 2003 die Anschlussförderung für die Sozialwohnungen gestrichen hat, dürfen die Vermieter zum Ausgleich eine kostendeckende Miete verlangen – bis zu 21 Euro pro Quadratmeter nettokalt sind möglich. Die Folge: Ausgerechnet die im Rahmen des geförderten sozialen Wohnungsbaus eigentlich für Menschen mit geringem Einkommen errichteten Gebäude gehören zu den teuersten in der Stadt.
Der Kampf der Sozialmieter
Sebastian Jung will das nicht akzeptieren. Der 36-Jährige ist einer der ersten Berliner Sozialmieter, der vor anderthalb Jahren die Folgen des Förderausstiegs zu spüren bekommen hat. Dem Single, der 50 Quadratmeter in einem IBA-Bau am Kreuzberger Fanny-Hensel-Weg bewohnt, ist seine 1,5-Zimmer-Wohnung mittlerweile zur Lebensaufgabe geworden. Bis zum Februar 2010 zahlte Jung 430 Euro (5,33 pro Quadratmeter/kalt). Dann schickte der Immobilienfonds „Elfte emc asset management GmbH&Co. KG“ die Mieterhöhung. Zum 1. März 2010 kletterte die Miete auf 7,04 Euro.
Jung gründete das Bündnis Sozialmieter.de, organisierte Demonstrationen und wandte sich schließlich an das Berliner Abgeordnetenhaus, um die Politiker auf die brisante Situation der Mieter von 28.000 Sozialwohnungen aufmerksam zu machen. „Zur Strafe erhielt ich eine erneute Mieterhöhung von 300 Euro pro Monat“, sagt Jung. Seine Miete beträgt aktuell 13,02 Euro – ein Preis, für den man anderswo Luxusausstattung erwartet. Doch das Ende der 80er-Jahre errichtete Wohnhaus wirkt reichlich renovierungsbedürftig. Aber Jung gibt nicht auf: Er hat sich einen Anwalt genommen, will vor Gericht nachweisen, dass die verlangte Miete nichts mit Kostendeckung zu tun hat.
Sebastian Jung rechnet damit, dass er als Sieger aus der Verhandlung hervorgeht. Von den Politikern erwartet er keine Hilfe mehr. Zu enttäuscht ist er von dem neuen Wohnraumgesetz, das der Senat vor der Wahl trotz der erheblichen Bedenken von Wissenschaftlern und Mitervereinen noch schnell verabschiedet hat. „Das Gesetz gibt nur vor, Erwerbern von Sozialbauten an den Mietspiegel zu binden. Sind die Mieten dort bereits explodiert, gibt es keinerlei Zwang, sie wieder abzusenken“, sagt Jung.
Dass die Mieten nach Jahren der relativen Stagnation so stark steigen, liegt an der deutlichen Verknappung des Angebots, die selbst Immobilenexperten überrascht hat. In den Jahren 2005 und 2010 ist die Zahl der Haushalte in Berlin um fast 100.000 gestiegen. Im gleichen Zeitraum wurden in der Stadt aber nur rund 15.500 Wohnungen neu gebaut. Die gestiegenen Mieten können deshalb durchaus auch einen positiven Effekt haben. Denn neue Wohnungen werden schließlich nur dann gebaut werden, wenn die Investoren sicher sein können, diese auch zu rentablen Preisen vermieten zu können. Nach Ansicht von Bauexperten lohnt sich Neubau für die Investoren in Berlin nur, wenn die Wohnungen hinterher für mindestens acht Euro pro Quadratmeter vermietet werden könnten. Für viele Berliner ist aber auch eine solche Miete noch viel zu teuer.
Mietentwicklung in Berlin:
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