Von den Betreibern des Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen wurde kein einziger bestraft. Ein Gastbeitrag von Hubertus Knabe.
Die Friedliche Revolution vor 30 Jahren befreite auch die Gefangenen im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Doch von den Betreibern wurde kein einziger bestraft. Sie freuen sich, dass dort inzwischen ein anderer Wind weht.
Es gibt Bilder, die brennen sich für immer ein ins Gedächtnis. Bei mir ist es das triumphierende Gesicht des einstigen Gefängnischefs von Hohenschönhausen, Siegfried Rataizick. Am Tag, nach dem mir Berlins Kultursenator Klaus Lederer mit zitternden Händen die Kündigung überreicht hatte, stand der ehemalige Stasi-Oberst vor seiner einstigen Wirkungsstätte. Er wollte sich den Auszug des in Stasi-Kreisen so verhassten Direktors der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen persönlich ansehen.
27 Jahre lang war Rataizick Chef der Abteilung XIV und damit Herr über sämtliche 17 Stasi-Gefängnisse. Allein in der zentralen Haftanstalt Hohenschönhausen, in der er 1952 als kleiner Wärter angefangen hatte, inhaftierte der DDR-Staatssicherheitsdienst rund 11.000 Menschen, die meisten, weil sie sich gegen die Diktatur der SED aufgelehnt hatten. Monatelange Einzelhaft und perfide Verhöre führten bei vielen zu lebenslanger Traumatisierung. Rataizicks ausgeklügeltes Haftregime, über das er 1984 an der Stasi-Hochschule in Potsdam sogar promovierte, war darauf ausgerichtet, dass den Gefangenen am Ende nur ein einziger Ausweg blieb: auszusagen, was die Stasi hören wollte.
Laut UNO-Konvention bezeichnet der Ausdruck „Folter“ jede Handlung, „durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen“. Folter und deren Duldung waren auch in der DDR eine Straftat. Trotzdem wurde Siegfried Rataizick niemals strafrechtlich zu Verantwortung gezogen. Nicht ein einziger der 744 Mitarbeiter der Stasi-Haftanstalt Hohenschönhausen musste nach der Wiedervereinigung ins Gefängnis.
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Folter-Mediziner blieb straffrei - und betreibt heute neurologische Praxis
Unbestraft blieb zum Beispiel ein Mediziner, der von Häftlingen beschuldigt worden war, ihnen mit Gewalt Tabletten und Spritzen verabreicht zu haben. Eine Gefangene hatte nachweislich ein Medikament bekommen, das sonst nur als letztes Mittel bei akuten Psychosen verwendet wird und sie wochenlang unzurechnungsfähig machte. Vor Gericht präsentierte der Arzt, der bis heute in Hohenschönhausen eine neurologische Praxis betreibt, ein Gutachten, demzufolge der Einsatz des Medikamentes zu Sowjetzeiten üblich gewesen sei – und wurde freigesprochen. Vergeblich bat ich die Stasi-Unterlagen-Behörde, die für Außenstehende unzugänglichen Krankenakten der rund 3000 Häftlinge auf weitere Missbrauchsfälle zu untersuchen.
Nur zwei Vernehmer wurden überhaupt zur Rechenschaft gezogen. Ein Oberstleutnant, der einen Häftling unter anderem mit dem Kopf gegen die Heizung geschlagen hatte, wurde zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er betreibt heute in Berlin eine Anwaltskanzlei. Ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt wurde die Freiheitsstrafe wegen mehrfacher Aussage-Erpressung für einen anderen Vernehmer. Da er sich für seine Doktorarbeit bei der Stasi einen Spionagering ausgedacht und dafür zwölf Menschen verhaftet und zu falschen Geständnissen gepresst hatte, sollte er im Juli 2000 erneut vor Gericht gestellt werden. Er tauchte eine Zeit lang unter, bis am 3. Oktober 2000 alle Straftaten bis auf Mord verjährt waren.
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Als der juristische Kampf gewonnen war, verlegten sich die Stasi-Obristen auf ihre Rehabilitierung vor der Geschichte. Die Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen war ihnen besonders verhasst, weil dort ehemalige Gefangene ungefiltert berichteten, was ihnen widerfahren war. Mich persönlich bekämpften sie, weil ich den Opfern öffentlich Gehör verschaffte – und weil die Besucherzahlen der Gedenkstätte unter einer Leitung von 50.000 auf fast eine halbe Million gestiegen waren.
Der ehemalige Gefängnischef nennt Gedenkstätte „infame Hetze“
In einem Buch warf der ehemalige Gefängnischef der Gedenkstätte 2002 vor, „eine infame Hetze gegen diese Untersuchungshaftanstalt“ zu betreiben. Einer Zeitung erklärte er sogar: „Ich möchte keinen Tag missen, würde es jederzeit wieder machen.“ Im Internet, in Büchern und auf Veranstalten machten er und mehrere Stasi-Vernehmer massiv gegen die Gedenkstätte mobil. Sogar Schulen warnten sie per Brief vor Besuchen. Und wie oft überreichte mir meine Assistentin schockiert einen anonymen Hetzbrief!
2006 kam es zum Eklat, als der damalige PDS-Kultursenator Thomas Flierl zu einer Bürgerversammlung einlud, um die Anwohner über ein paar Gedenktafeln rund um das Gefängnis diskutieren zu lassen. Rund 200 ehemalige Stasi-Mitarbeiter erschienen und machten ihrem Zorn über die Gedenkstätte Luft. Auch der frühere Gefängnischef Rataizick ergriff das Wort und beschwerte sich über die „sogenannten Museumsführer, die immer wieder, immer wieder, und das ist leider so, immer wieder sich als Opfer darstellen und wir als ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit als Täter deklariert werden“.
Flierl, der laut Gesetz auch Stiftungsratsvorsitzender der Gedenkstätte war, redete den Obristen damals nach dem Munde, anstatt sich vor die Gedenkstätte zu stellen. Politik und Medien reagierten empört und Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) lud die ehemaligen Häftlinge demonstrativ ins Abgeordnetenhaus ein. Wenig später warf der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit Flierl aus dem Senat.
Das politische Klima in Berlin hat sich geändert - zugunsten der Täter
Gut zehn Jahre später hat sich das politische Klima in Berlin grundlegend gewandelt. Niemand aus der Regierung protestierte, als Ex-SED-Generalsekretär Egon Krenz im Freizeitforum Marzahn kürzlich auf einer Feier zum 70. Jahrestag der DDR die DDR hochleben ließ. In der Einladung hatte es geheißen, die DDR sei „die glücklichste Etappe in der deutschen Geschichte“ gewesen. Der zuständige SPD-Stadtrat lehnte es ab, den Mietvertrag zu kündigen.
Wowereits Nachfolger Michael Müller schwieg ebenso wie sein grüner Koalitionspartner, als mir Linken-Kultursenator Klaus Lederer im vergangenen Jahr nach 18-jähriger Tätigkeit völlig überraschend kündigte. Da Lederer nie mit mir darüber gesprochen hat, weiß ich bis heute nicht, warum. Der Beifall der Obristen und seiner Partei, die den Staatssicherheitsdienst einst gegründet hatte und von mir wegen ihres beschöningenden Umgangs mit der DDR wiederholt kritisiert wurde, war ihm jedoch sicher.
Zum neuen Direktor berief er ausgerechnet den Mann, der die Erforschung der Behandlungsmethoden im Haftkrankenhaus immer abgelehnt hatte. Ein Film, der den Besuchern die Machenschaften der Stasi vor Augen führte, wird schon nicht mehr gezeigt. Für Siegfried Rataizick, der nach der Friedlichen Revolution vor 30 Jahren als Gefängnischef entlassen wurde, war es ein später Triumph, dass es seinem verhassten Widersacher am Ende genauso erging wie ihm.
Hubertus Knabe
Der Historiker Hubertus Knabe (60) leitete die Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen von 2000 bis zu seiner Abberufung im März 2019. Ihm wurde vorgeworfen, nicht gegen sexuelle Belästigung durch seinen Stellvertreter eingeschritten zu sein. Knabe ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem zu Unterwanderung des Westens durch die Stasi.
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