Mauerfall

Krenz’ Lesung ist bizarre DDR-Schönfärberei - und Therapie

| Lesedauer: 10 Minuten
Martin Nejezchleba
Nach seiner Lesung signiert Egon Krenz im Rosa-Luxemburg-Saal der Linken Parteizentrale Bücher für seine Zuhörer.

Nach seiner Lesung signiert Egon Krenz im Rosa-Luxemburg-Saal der Linken Parteizentrale Bücher für seine Zuhörer.

Foto: Martin Nejezchleba

Egon Krenz zieht eine Parallelwelt der Gekränkten an. Denn sein trotziger Blick auf die Wiedervereinigung verspricht Linderung.

Berlin. Der untergegangene Staat erwacht acht Minuten früher als geplant. Längst sind alle Stühle, alle Fensterbänke, alle Stehplätze belegt, an die 120 Zuhörer haben sich in den beigen Saal gezwängt, vom Gang her drängen immer noch mehr an die Flügeltür. Kein Grund mehr zu warten, also geht es schon um 9.52 Uhr los.

Kein Wunder dieser Andrang, sagt die Moderatorin in parteirotem Blazer vor parteiroter Wand, begrüße sie an diesem Vormittag doch einen landesweit bekannten Gast im Seniorenclub in der Berliner Zentrale der Linken. Mit landesweit, das stellt die Moderatorin klar, meint sie Ex-DDR-weit.

Der Stargast wird geduzt, der Egon. Genosse Krenz. Gealterter, 82 Jahre inzwischen, aber irgendwie immer noch der Alte, mit arbeiterschlauem Lächeln und diesem leichten Teint, der ihn schon damals, als die DDR auf ihren Untergang zu wankte, so sommerfrisch, so gelassen wirken ließ.

Der letzte Überlebende

„Er verkörpert bis heute, dass es denkbar ist, einen Staat ohne Kapitalismus auf deutschem Boden zu führen. Einen friedlichen Staat.“ Die das sagt, die Moderatorin im rotem Blazer, heißt Helga Labs, ist einstige Vorsitzende der Pionierorganisation Ernst Thälmann. Egon Krenz war ihr Vorgänger in diesem Amt, löste später Erich Honecker als Staatsratsvorsitzender ab, führte Einparteiendiktatur der DDR an ihr Ende und wurde noch später in den Mauerschützenprozessen zu sechs Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.

Heute ist er vor allem der letzte Überlebende der DDR-Nomenklatura. Er schreibt Bücher über seine Sicht auf die Wiedervereinigung, über das Verhältnis zu China. Mit seinem neuesten Werk ist er an diesem Vormittag in Berlin: „Wir und die Russen – Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst 89“.

Die Berliner Morgenpost hätte gerne ein Gespräch über diese Zeit mit ihm geführt, jetzt, da 30 weitere Herbste ins Land gegangen sind. Egon Krenz lehnte ab. Dabei hat er durchaus Redebedarf, reist er doch als ein Art ständiger Vertreter der DDR von Lesung zu Lesung. Auf verborgenen Wegen verbreitet sich die Kunde vom Staatsbesuch. Google weiß nichts davon. Auch sein Verlag gibt keine Auskunft. Und doch findet immer wieder diese längst vergessen geglaubte Parallelwelt um Egon Krenz zusammen.

„Mit sozialistischen Grüßen“

Sie besteht aus Rentnern, die mal Funktionäre waren, Omas in geblümten Blusen, die mit den Tränen kämpfen, sagen, wie dankbar sie für ihr Leben in der DDR sind. Da ist ein Mann mit einem Foto von sich, Krenz und dem goldenen Ährenkranz an der Wand. Er hätte gerne eine Unterschrift „mit sozialistischen Grüßen“ von Krenz.

Irgendwann im Laufe des Vormittags wird Moderatorin Labs die Genossen auf die stickige Saalluft hinweisen, darum bitten, die Fenster zu öffnen. Draußen rauscht der Kapitalismus, huschen Menschen mit Coffee-to-go-Bechern in U-Bahnhöfe, gleiten E-Roller keine 100 Meter entfernt an der Stasi-Unterlagenbehörde vorbei. Die Fenster werden geschlossen bleiben.

Nun könnte man sich über den Muff der Gestrigen amüsieren, über ihre Plastiktüten und Geschichtsvergessenheit. Oder man könnte zuhören. Jetzt, da die Erfolge der Wiedervereinigung zur Diskussion stehen, da kürzlich ein Ministerpräsident der Linken eine Landtagswahl gewonnen hat, der das Wort Unrechtsstaat als unpassend für die DDR empfindet. Lässt man sich darauf ein, dann wird man Zeuge einer Therapiestunde. Für Egon Krenz. Für seine Fans.

Der Rotarmist und das Heideröschen

Das Buch sei keine Abrechnung mit Gorbatschow, es verkläre nichts, sei differenziert, sagt er. Und noch bevor er anfängt zu lesen, beginnt Krenz mit der Verklärung, erzählt von Kindheitserinnerungen: An einen sowjetischen Offizier, der wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Krenz‘ Heimatort kam, eine Melodie summte und ihn aufforderte, mitzumachen. Es sei das Heideröslein von Goethe gewesen. Und dann habe die Lehrerin in der Schule gesagt: der Russenkommandant habe befohlen, dass ab sofort nicht mehr geschlagen würde. „In der BRD ist erst in den 70er-Jahren der Rohrstock aus den Schulen verbannt worden“, sagt Krenz.

Die Botschaft zieht sich durch den Vormittag: Fortschrittlich war er, unser Sozialismus. Und auch wenn Gorbatschow die DDR verraten habe: „Ich verwechsle nicht einzelne Politiker mit dem kollektiven Wollen der Völker der Sowjetunion.“ Krenz macht an solchen Stellen eine Pause, lässt, wie ein guter Geschichtenerzähler Zeit zum Nicken, Zeit zum Klatschen.

Etwa wenn er den Befehl 11/89 erwähnt. Darin hat Krenz am 3. November 1989 den DDR-Sicherheitskräften verboten, die Waffen gegen die DDR-Bürger zu richten, die in diesen Tagen zu Hunderttausenden friedlich gegen das Regime demonstrieren.

Mit dem Rücken zur Wand

Dabei gibt Krenz durchaus zu, dass der Staat mit dem Rücken zur Wand stand. Nachdem Moskau den Weg zur Wiedervereinigung freigemacht hatte und die „Wir sind das Volk“-Rufe nicht mehr zu überhören waren. Heute wisse Krenz: „Wir hatten das Vertrauen großer Teile des Volkes verloren.“

Aber das soll auch nicht vom Wesentlichen des Vormittags ablenken: „Falsch und gehässig gegenüber der DDR“ werde die Geschichte der Spaltung Deutschlands laut Krenz dargestellt. Er spricht von der westdeutschen „Aufarbeitungsindustrie“, die dem Osten alle Schuld am Kalten Krieg in die Schuhe schiebe. Davon, wie mit dem Ende der Sowjetunion das Weltgleichgewicht, ja der Weltfrieden, zerstört wurde. Wie nach der Wiedervereinigung die Lebensleistung der DDR-Bürger geschmäht wurde.

All das wäre aus der Sicht der krenzschen Parallelwelt nachvollziehbar, und in alledem steckt ein Stück Wahrheit der Wiedervereinigung. Nur verkommt es durch Krenz’ Worte zur Propaganda: erhebt er doch seine Sicht der Dinge zur absoluten Wahrheit, Subjektives zu objektiven Fakten. Schließlich habe er das, was er hier mitteile, „nicht von irgendwoher erfahren, sondern selbst erlebt.“

Arithmetik des Trotzes

Die Krenz-Therapie beruht auf einer Art Arithmetik des Trotzes: Wenn ihr im Westen die DDR auf Mauer und Stasi reduziert – dann reden wir eben nur über die guten Seiten des Sozialismus.

Die Behandlung wirkt an diesem Vormittag, denn Krenz ist der ideale Therapeut. Knapp zwei Stunden erfüllt seine sonore Stimme – ganz ohne Mikrofon – den Saal. Man kann eine alte Dame mit blauem Schimmer in den weißen Locken beobachten, wie sie an der Wand lehnt, immer wieder die Augen schließt. Wenn man es ihr gleichtut, hört man den SED-Generalsekretär von 1989 sprechen.

Man hört Wortmeldungen, die als Fragen angekündigt werden, in Monologe über die Orchestrierung der „sogenannten Friedlichen Revolution“ aus dem Westen münden und enden mit Formulierungen wie: „Teilst du diese Einschätzung, Egon?“

Man hört Krenz sagen, dass die Stasi immer die besten Berichte geschrieben hat und dass es ganz furchtbar für die „Berichterstatter“ gewesen sein muss, wenn man sie als Spitzel diffamierte. Man hört einen Mann referieren, dass die Volkspolizei nie mit Gummiknüppel gegen die eigene Bevölkerung losgegangen sei, so wie in der BRD, und ob der Egon das vertiefen könne. Im Großen und Ganzen, so Krenz, sei das so gewesen.

Warnung vor dem Mauerfalljubiläum

Worte wie diese hört man hier nicht: Mauertote, Mangelwirtschaft, Spitzelstaat, Zensur, Folter, Verfolgung. Aber man hört das Wort Unrechtsstaat: in den Augen von Krenz ist der Begriff Teil der Wessi-Strategie, alles an seiner DDR zu verteufeln.

Und so warnt am Ende die Moderatorin und Ex-Pionierführerin Labs alle vor der Stimmungsmache zum Mauerfalljubiläum. „Da waren ja alle angeblich so glücklich, sind alle angeblich in den Westen rüber.“ „Ich nicht“, ruft eine Frau aus dem Publikum. „Erstaunlicherweise waren wir danach immer noch 16,5 Millionen“, sagt Labs. Nun, es waren noch 16,1 Millionen DDR-Bürger. Und 40 Jahre zuvor 18,4 Millionen.

Dann gibt es Rotkäppchensekt für den Egon, Umarmungen und eine nicht enden wollende Warteschlange für seine Widmungen. Wie der Verkauf seiner Bücher lief, fragt Krenz zum Schluss. „Ausverkauft“, sagt Labs.

Eine Frage des Glaubens

Für ein Gespräch mit dem Reporter hat Krenz jetzt nun wirklich keine Zeit. Ein Zuhörer hält den Journalisten für einen Terroristen. Andere sagen, dass sie nach diesem Vortrag nun vieles besser verstünden – aber mit der Presse reden? Da würde dann wieder alles verdreht.

Eine 79-jährige Ur-Oma namens Roswitha Goerling spricht dann doch. „Man darf nicht den Glauben daran verlieren, dass das eigene Leben gut war“, sagt sie. Das Wort Unrechtsstaat empfinde sie als persönlichen Angriff. Aber was ist denn mit der Stasi, mit der Mauer, den Schüssen, den Toten? Na ja, sagt Roswitha, jeder habe doch gewusst, dass da eine Grenze war.