Am 9. Oktober 1989 begann in Leipzig die friedliche Revolution. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Jankowski.
Der Autor Martin Jankowski gehörte zu den Organisatoren des Friedensgebets am 9. Oktober 1989 in der Leipziger Nikolaikirche – es wurde die bis dahin größte Demonstration in der DDR. Bis zuletzt fürchtete man, der Protest würde blutig niedergeschlagen. Warum es anders kam und dies das Verdienst der Demonstranten war – ein Gespräch.
Herr Jankowski, Sie haben gleich zwei Bücher über die Ereignisse in Leipzig 1989 veröffentlicht, einen Roman und ein Sachbuch. Warum dieses Thema?
Martin Jankowski Mein Roman „Rabet“ von 1999 erzählt literarisch, wie sich diese Zeit anfühlte, als die friedliche Revolution begann. Danach wurde ja vieles zur Legende verklärt.
Was besagt die Legende?
1995 kam der Film „Nikolaikirche“ nach dem Roman von Erich Loest in die Kinos, der einen Mythos schuf – danach soll es der Stasi-Chef in Leipzig gewesen sein, der an jenem Tag den Schießbefehl aufhob. Mit der Begründung, man habe bei der Demonstration mit allem gerechnet, aber nicht mit Kerzen und friedlichen Gebeten – da könne man nicht schießen. Das ist als Story für einen Film in Ordnung, aber es stimmt eben nicht.
Wie war es wirklich?
Es waren die Menschen auf der Straße, die die Staatsmacht friedlich bezwangen. In den Medien heißt es bis heute, an jenem Tag seien 70.000 Menschen aus der gesamten DDR zum Friedensgebet nach Leipzig gekommen, nach Recherchen von Experten waren es mehr als 100.000. Dem standen nur etwa 5200 bewaffnete Einsatzkräfte gegenüber. Das waren schlicht zu wenig. Man musste einsehen, dass Gewalt alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Intern hieß es: Dann greifen wir eben bei der nächsten Montagsdemonstration durch. Was dann zum Glück wieder nicht gelang, denn dann waren wir schon mehr als 120.000 Menschen.
Sie sagen: Dieser 9. Oktober in Leipzig, und nicht der 9. November, war der entscheidende Tag der friedlichen Revolution. Warum?
Weil erst dieser Tag den Weg frei gemacht hat für die Demonstrationen im ganzen Land. Bis dahin wagten sich die Menschen in der DDR kaum auf die Straße, es war zu gefährlich. Für mein Buch „Der Tag, der Deutschland veränderte“ habe ich 2007 den Ablauf jenes Tages noch einmal genau recherchiert. Aus internen Berichten von Stasi, SED und Polizei geht eindeutig hervor, dass die DDR damals nur knapp einem Bürgerkrieg entging. Danach begannen Massendemonstrationen im ganzen Land, erst so wurden Honeckers Rücktritt und die Maueröffnung möglich.
Man weiß über Leipzig wenig. Woran liegt das?
Unter anderem gibt es wenig Bildmaterial über jene Zeit. Westliche Journalisten konnten sich in der DDR nicht frei bewegen und durften nur nach Ost-Berlin. Und die DDR-Medien ignorierten die Proteste – bis zum 9. Oktober von Leipzig.

Wie haben die Proteste angefangen?
Im Januar 1988 wurden in Ost-Berlin zahlreiche Oppositionelle verhaftet. Sie hatten sich in den jährlichen Gedenkmarsch der DDR-Oberen zum Gedenken an Liebknecht und Luxemburg gemischt und Luxemburg-Zitate hochgehalten: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Wir haben dann in Leipzig zur Solidarität mit den Inhaftierten aufgerufen.
Wer war die Opposition in Leipzig?
Es gab dort die sogenannten Basisgruppen, die in der Nikolaikirche montags ein Friedensgebet gestalteten. Es ging um Umweltthemen, Friedenspolitik, um Homosexualität und andere Themen, die offiziell nicht frei diskutiert werden duften. Anfangs war es noch eine kleine Veranstaltung. Als wir nach den Verhaftungen in Berlin Informationen dazu in der Nikolaikirche veröffentlichten, bekamen manche Kirchenleute zwar beinahe einen Herzinfarkt, aber die Friedensgebete wurden von da an politischer und immer voller.
Was wollten Sie in der DDR verändern?
Wenn es heute heißt, das Ziel der Opposition sei der Fall der Mauer gewesen, kann ich nur sagen: So weit haben wir gar nicht gedacht. Ich stellte mir so einen „Gorbi-Sozialismus“ vor, dass sich Dinge graduell verbessern. Es ging um Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Reisefreiheit, bessere Versorgung, Verfall der Städte, Entmilitarisierung des Alltags. Wir träumten damals von einem dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Wie kamen Sie selbst in die Opposition?
Geboren bin ich in Greifswald, in ein Elternhaus, das eine DDR-typische Doppelmoral hatte. Meine Eltern waren schlesische Flüchtlingskinder, sie gingen einerseits zur Kirche, waren aber anderseits durch die DDR zu Akademikern geworden. Zu Hause wurde geschimpft, ansonsten hielt man den Mund, um keinen Ärger zu bekommen. Ich selbst bin als Jugendlicher über „Schwerter zu Pflugscharen“ zur christlichen Friedensbewegung gekommen.
Warum Leipzig?
Nach dem Militär bekam ich keinen Studienplatz. Ich galt der Stasi als „Inspirator PUT“ – für politische Untergrundtätigkeit. Schließlich fand ich einen Ausbildungsplatz in Leipzig und knüpfte Kontakt zu den Basisgruppen. Leipzig hatte etwas Weltoffenes, auch wegen der Messe, wo zweimal im Jahr internationale Gäste hinkamen. Ich hatte das Gefühl, wenn überhaupt, würde sich hier etwas verändern.
Wie arbeitete die Opposition?
Wir gründeten einen Trägerkreis, der die Friedensgebete und andere Solidaritätsaktionen in Leipzig organisierte. Wir besorgten Leuten, die Schwierigkeiten hatten, Anwälte und hielten Kontakt zu West-Journalisten. Wenn jemand verhaftet wurde, sollte der Name in den westlichen Nachrichten genannt werden, das half damals sehr, war aber auch ein Risiko. Auf „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ mit westlichen Journalisten standen hohe Haftstrafen.
Wie kam der Protest auf die Straße? In der DDR waren Demonstrationen verboten.
Die Friedensgebete füllten bald die ganze Nikolaikirche, wo 4000 Menschen hineinpassen. Aber selbst das reichte irgendwann nicht mehr, und die Leute standen vor der Tür. Und wenn Tausende Besucher auf dem Heimweg zur Straßenbahn liefen, dann war die Straßenkreuzung am Gewandhaus eben einfach mal eine halbe Stunde blockiert. Das war der Beginn der Montagsdemonstrationen.
Es kamen dann auch die „Ausreiser“.
Ja, zum einen hatten die sogenannten Ausreisergruppen Leipzig für sich entdeckt. DDR-Bürger, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten und hofften, wenn sie bei den Leipziger Friedensgebeten auffielen, würden sie schneller abgeschoben. Das klappte meistens auch. Dazu kamen Unzufriedene aus allen Landesteilen, die wussten, dass man in Leipzig Informationen bekam, die man sonst nirgends hörte. So entwickelte sich ein richtiger Demonstrationstourismus.
Wie verlief der 9. Oktober für Sie?
Das Friedensgebet an diesem Tag war eine der aufregendsten Stunden in meinem Leben. Morgens habe ich eine Babysitterin für meine Tochter organisiert, ich wusste ja nicht, ob ich abends wieder zu Hause wäre. Auf dem Weg zur Kirche lief ich durch Straßen voller Menschen. Wussten die Leute nicht, dass es hieß, es solle geschossen werden? Aber die wussten das und kamen trotzdem.
Woher kam die Information, dass auf Demonstranten geschossen werden sollte?
Man muss dazu wissen: Es war ein heikles Datum. Zum 40. Jahrestag der DDR zwei Tage zuvor war Gorbatschow in Berlin gewesen und kopfschüttelnd wieder abgereist. Demonstranten waren vor den Palast der Republik gezogen und hatten „Gorbi, Gorbi“ gerufen. In mehreren kleinen Städten hatte es Polizeieinsätze gegen Demonstranten gegeben. Heute weiß man, dass Stasi-Chef Mielke damals in einer internen Sitzung fragte, ob es zum Volksaufstand wie am 17. Juni 1953 kommen könnte. Und dass es hieß: Ja, kann passieren. Deshalb wollte man endgültig durchgreifen.

Was wussten Sie konkret über die Vorbereitungen in Leipzig?
In den Betrieben und Schulen wurden Informationen verbreitet: Wenn am Montag nochmal jemand auf die Straße geht, wird geschossen. Ich jobbte damals in der Verwaltung eines Krankenhauses und bekam mit, wie sich alle Krankenhäuser auf Schusswunden in großer Zahl vorbereiteten und Leichensäcke bestellten. Heute weiß ich, dass dies Agitation war. Das wurde gezielt gestreut, um Angst zu verbreiten. Doch am Stadtrand wurde tatsächlich Armee positioniert.
Hätte man denn geschossen?
Heute weiß ich, dass das innerhalb der „bewaffneten Organe“ umstritten war. Vonseiten der Sowjets gab es zwar keine Absicht, einzugreifen wie beim „Prager Frühling“ 1968, aber das wusste ja damals niemand. Es herrschte große Angst. Bei den Vorbereitungen des Friedensgebets beschlossen wir, stadtweit so viele Kirchen wie möglich als Schutzräume zu öffnen. Nachmittags gab es eine Krisensitzung mit dem üblichen Aufruf, friedlich zu bleiben und keinesfalls zu provozieren, damit der Staat keinen Grund hätte, zuzuschlagen.
Am späten Nachmittag wandte sich der damalige Leipziger Gewandhausdirektor Kurt Masur an die Öffentlichkeit.
Masur war sehr berühmt, aber auch ein Freund und Genießer der SED-Privilegien. Er sendete zusammen mit einem staatsnahen Theologen und anderen einen Aufruf über den „Stadtfunk“, die Lautsprecher an den Straßen. Er bat um Besonnenheit und forderte einen freien Meinungsaustausch zwischen Demonstranten und Staat. Ich denke, dieser Aufruf wirkte vor allem auf die Parteigenossen und auf die „bewaffneten Organe“. Dass jemand von Masurs Bedeutung einen Dialog mit dem Staat forderte, war neu. Wir Demonstranten haben den Aufruf teils rein akustisch gar nicht verstanden und waren ja ohnehin gewillt, friedlich zu bleiben.
Wie ging der Abend des 9. Oktober aus?
Nachdem die angekündigte Niederschlagung ausblieb, standen und saßen alle noch Stunden auf den Straßen. Die „Kampfordnung“ aus Bürgern und Polizei löste sich auf, plötzlich sprachen beide Seiten tatsächlich miteinander und diskutierten. Alle waren erleichtert, dass der befürchtete Bürgerkrieg nicht eingetreten war. Für uns war es das Gefühl, stärker als die bewaffnete Staatsmacht geworden zu sein. Ab jetzt würde man es nicht mehr wagen, zu schießen.
Sie sagen, in dieser Zeit entstand auch der Ruf „Wir sind das Volk“?
Ja, es war ursprünglich eine ironische Antwort auf die Lautsprecherdurchsagen vom 2. Oktober: „Hier spricht die deutsche Volkspolizei!“ Unsere Antwort war: „Und wir sind das Volk!“ Und es dämmerte den bewaffneten Einsatzkräften, dass wir keine „westlichen Provokateure und marodierenden Rowdys“ waren, wie man ihnen weisgemacht hatte, sondern wirklich ihre friedlichen Nachbarn und Bekannten.
Dann wandelte sich der Ruf zu „Wir sind ein Volk“.
Das war nachweislich das Ergebnis einer Kampagne der westdeutschen CDU, die ihren Wiedervereinigungswunsch ab November 1989 geschickt unters Leipziger Demo-Volk trug. Der Spruch der Einheitsfans Ost lautete damals ja eher „Deutschland einig Vaterland“.
Heute macht die AfD mit dem Spruch und auch dem Begriff „Wende“ Wahlkampf.
Den Typ Mensch, der heute AfD wählt, gab es auch schon in der DDR. Den Begriff „Wende“ hat übrigens Egon Krenz geprägt, und er meinte damit, dass er den Sozialismus vor der friedlichen Revolution retten wollte. Solche Sprüche funktionieren heute im Wahlkampf vor allem bei älteren Ostdeutschen. Deswegen habe ich auch den Brief der Leipziger Bürgerrechtler unterschrieben, der sich gegen diese Anmaßung richtet, die friedliche Revolution für ihre Propaganda zu missbrauchen.
Es heißt, die AfD habe Erfolg gerade bei jenen, die vom Mauerfall nicht profitierten.
Da ist was dran. Viele, die heute bei Pegida mitmarschieren, sind auch damals schon dabei gewesen. 1989 war ja die gesamte politische Bandbreite auf der Straße. Erfolg hat die AfD aber auch bei jenen, die sich nach dem Ende der DDR deklassiert fühlten, bei Akademikern und Funktionären. Und ich denke, dass auch die Abwanderung eine große Rolle spielt.
Wenn Sie die Proteste von Hongkong sehen: Gibt es Parallelen?
Absolut. Auch wenn die politischen Umstände nicht vergleichbar sind, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie die Leute sich fühlen, wenn sie Woche um Woche marschieren, immer mit der Furcht, jetzt schnappen sie dich, und du verschwindest in einem Lager. Ich wünsche mir sehr, dass sie Erfolg haben. Und wenn man jetzt einwendet, dass sie kaum eine Chance haben, dann kann ich nur sagen: Die hatten wir 1989 auch nicht.