Der Staat filmte den Alltag seiner Bürger. Das Resultat wollte man dem Volk allerdings nicht zeigen. 200 Stunden Filmmaterial wurden entdeckt. Heute Abend zeigt der RBB eine Dokumentation.
„Ihr Aufzug ist Ihre Sache, solange Sie keinen Anstoß erregen.“ Die Stimme des Polizisten ist streng. „Wir haben morgen den 1. Mai, das ist nun mal ein Kampftag der Arbeiterklasse. Wir sind dagegen, dass da irgendwelche Leute mit dekadentem Aussehen wie Sie dabei sind!“ Vor dem Polizisten steht ein schmächtiger Junge in schwarzer Jacke und schaut trotzig zurück. Die dunklen Locken stehen ihm in einer Keilfrisur um den Kopf. Der Stil ist eindeutig: New Wave, frühe 80er-Jahre. Der Ton des Polizisten ist es auch: DDR, ebenfalls 80er Jahre. Jene Zeit eben, als die Bürger zunehmend rebellierten gegen das Regime und die Unfreiheit. Nur eines ist wirklich erstaunlich an dieser Szene: Sie ist kein Spielfilm, sondern echt. Aufgenommen wurde sie 1985 im Polizeirevier an der Brunnenstraße in Mitte.
Je länger das Ende des Sozialismus her ist, desto schwieriger wird es, sich in jene Zeit zurückzuversetzen – nicht zuletzt, weil Aufnahmen wie diese fehlen. Die DDR-Oberen wachten scharf darüber, dass ihr Staat in Medien, Kunst und Literatur nur als Wunschtraum beschrieben wurde. Einfach zeigen, wie es wirklich war im Schatten der Mauer – wer das tat, wurde verfolgt, bestraft, der Heimat verwiesen.
200 Stunden Film über den DDR-Alltag
Umso sensationeller ist der Fund, der vor einigen Jahren im Filmarchiv Hoppegarten auftauchte. 301 Dokumentarfilme über den Alltag der DDR, 200 Stunden Material, aufgezeichnet in Ost-Berlin in 16 Millimeter Schwarz-Weiß zwischen 1971 und 1986. Und das von einem Filmteam, das genau wusste, wo es hinmusste. Nämlich dahin, wo das offizielle Staatsfernsehen nicht hinschaute. Zu alten, einsamen Menschen, zu frustrierten Arbeitern, in schrottreife Fabriken und in die verfallenden Altbauquartiere von Mitte und Prenzlauer Berg.
Dass all dies gefilmt wurde, und zwar nicht als subversives Projekt, sondern im offiziellen Auftrag der DDR, nennt der damalige Kameramann Peter Badel heute eine „typische DDR-Erfindung“. Um späteren Generationen zeigen zu können, welche Hürden der Sozialismus bis zum Sieg nehmen musste, sollten genau diese im Film festgehalten werden. 1971 wurde dafür im staatlichen Filmarchiv der DDR eine eigene Abteilung gegründet, die Staatliche Filmdokumentation, kurz SFD, mit zehn Mitarbeitern.
Die SFD bekam ein Büro am Rosenthaler Platz, erinnert sich Badel, unterm Dach eines schlecht geheizten Altbaus. „Eine Etage unter uns arbeitete Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der für die DDR den Agentenaustausch und Häftlingsfreikauf verhandelte.“ Geheim sei das Büro nicht gewesen, sagt der SFD-Gründer und Leiter der Staatlichen Filmarchivs, Wolfgang Klaue.
Bericht für die Nachwelt
Doch besonders bekannt war es andererseits auch nicht. Denn die Filme wurden weggeschlossen und bis auf wenige Ausnahmen nie gezeigt. „Wir dachten, sie werden vielleicht in 100 Jahren wieder hervorgeholt, um der Nachwelt über die DDR zu erzählen“, sagt Kameramann Badel. „Das war für uns schon eine Motivation.“ Badel hatte immer wieder erlebt, wie Filme verhindert, verboten, sogar zerstört wurden. Bei der SFD durften sie wenigstens in Ruhe drehen.
Tatsächlich dauerte es fast 30 Jahre, bis nun erste Ausschnitte der Filme im rbb-Fernsehen gezeigt werden. In einer 45-minütigen Dokumentation erzählt der Regisseur Thomas Eichberg die verrückte Geschichte der lang vergessenen Bilder. Die Filmrollen waren zwar mit dem Einigungsvertrag 1990 ans Bundesarchiv übergegangen. Doch erst 2012 begann man, sie zu restaurieren, zu digitalisieren und einzuordnen.
Historikerin Anne Barnert hat einen großen Teil des Materials gesehen. „Anfangs wurden vor allem Interviews mit DDR-Prominenten geführt, ab 1977 sollte das Alltagsleben der DDR-Hauptstadt in allen Details abgebildet werden.“ In den 80er-Jahren widmeten sich die Dokumentarfilmer zunehmend Tabuthemen wie Kriegsdienstverweigerern oder dem repressiven Umgang mit der Kirche. In einem Film begleiten sie dafür Manfred Stolpe, damals Mitglied der Kirchenleitung in Berlin-Brandenburg, nach der Wende Ministerpräsident in Brandenburg.
Wie die Enteignung wirklich lief
Was, also, zeigen die Filme konkret? Und kann man sie überhaupt verstehen, wenn man nicht in der DDR gelebt hat? Ja, sagt Regisseur Eichberg. Er hat für den rbb-Film Passagen ausgewählt, die rühren, erschrecken, wütend machen. Dies jedenfalls waren die Reaktionen der ersten Zuschauer, die die Dokumentation in einer Vorführung der Bundesstiftung Aufarbeitung sahen.
Zum Beispiel das Interview mit dem ehemaligen DDR-Regierungsmitglied Karl Mewis. Er schildert die Enteignung der Bauern in Mecklenburg. „Viele Bauern waren eher bereit, Haus und Hof anzuzünden, als in die LPG zu gehen“, sagt er und schaut grinsend mit einem Blick in die Kamera, der heißen soll: Wir sind ja unter uns. Dann fährt er fort: In Sassnitz auf Rügen habe man ein komplettes Dorf daran gehindert, mit der Fähre nach Schweden zu fliehen. „Sie wollten alles, nur nicht die Kollektivierung.“ Ganze Dörfer seien „von Agitatoren regelrecht umstellt worden“ bis der letzte klein beigab, sagt der Funktionär stolz.
Kaufhalle, Fleischer, Hochzeiten
Ab 1977 hieß das Projekt der SFD „Berlin Totale“. Nun sollte das Alltagsleben der Ost-Berliner festgehalten werden. Als wäre ihnen das eigene Leben komplett fremd, beobachteten die Dokumentarfilmer Menschen in der Kaufhalle, einen Fleischer, der seine Kunden im schönsten Berlinerisch mit lustigen Sprüchen unterhält oder die Hochzeit eines junges Paares.
Die Kamera fängt den unsicheren Blick ein, mit dem sie aus dem Standesamt treten. Oder den Moment, als sie, total überschuldet, den DDR-üblichen, zinslosen 5000-Mark-Kredit aufnehmen, mit dem die Familienbildung gefördert wurde. Das Baby des Paares schläft neben dem Kachelofen. Die Miete der winzigen Wohnung beträgt „28 Mark 95“.
Auch die Aufnahmen aus den Hinterhöfen von Prenzlauer Berg dürften heute viele Menschen interessieren. In einem Film erregt sich der Leiter der Kommunalen Wohnungsverwaltung über die verschimmelten Wohnungen. Ein Rentner-Ehepaar erzählt, wie es 20 Jahre lang in seine Wohnung regnete, bis endlich ein Dachdecker kam. Von ihnen und den Künstlern, die damals in den maroden Häusern lebten, sind heute nur noch wenige da.
Stasi schleust einen Bewohner ein
Einmal wagten sich die Dokumentarfilmer bis an die Berliner Mauer. Sie interviewten einen „Bewohner“ in seinem Wohnzimmer, einen smarten Kerl in Rollkragenpulli, der in den Stanzen des Staatsapparates spricht. Er beklagt das „vom Westen strapazierten Gesäusel vom Schießbefehl“. Er versichert „an diesem Abschnitt der Grenze hat es so etwas noch nie geben“. Die Wohnung liegt an der Ackerstraße, wo heute die Mauergedenkstätte an die Toten erinnert.
Der Mann, so viel ist klar, war mutmaßlich ein Stasi-Spitzel, doch der gehörte ja auch zum Alltag der DDR. Auch die SFD wurde von der Stasi beobachtet, sagt Anne Barnert. Es gab auch einen IM. „Doch man maß den Berichten wohl keine große Bedeutung bei, weil die Filme ja nicht gezeigt wurden.“
So gelang den Filmern 1985 ihr größter Scoop. Eine Woche lang filmten sie im Polizeirevier an der Brunnenstraße den Umgang des Arbeiter- und Bauernstaates mit seinen Bürgern, bis den Oberen dämmerte, dass der Sozialismus in diesen Aufnahmen vielleicht auch in 100 Jahren kein gutes Bild abgeben würde. Der Film zeigt den martialischen Umgang mit Verdächtigen, Polizisten beim Fernsehen im Pausenraum und Verhöre wie jenes mit dem New-Wave-Jungen, der Ausgangsverbot für den 1. Mai bekam. 1986 schließlich wurde die SFD aufgelöst. Möglicherweise ahnte man, dass der Sieg des Sozialismus doch nicht so sicher bevorstand.
Der heimliche Blick - wie sich die DDR selbst beobachtete, Dienstag, 17. März, 22.45 Uhr, rbb