Zum ersten Mal sprach ein Oberhaupt der katholischen Kirche im Bundestag. In seiner Rede erinnerte der Papst an die Rolle der Gerechtigkeit für die Politik und konfrontiert die Abgeordneten mit einer christlichen Ethik der Natur.
Kaiserwetter leuchtete über dem Flughafen Ciampino auf, als am Donnerstag um acht Uhr der kleine Mann in Weiß mit seinem Gefolge aus dem römischen Flughafengebäude kam. Per Handschlag verabschiedete er sich von Kardinälen, Bischöfen und politischen Autoritäten. Langsam schritt er auf die Gangway zu. Er tastete sich in diese komplizierte Reise hinein.
Während des Flugs nach Berlin, gegen 9.15 Uhr, kam er bedächtigen Schrittes zu den mitgereisten Journalisten nach hinten. Aufrecht stand Papst Benedikt XVI. da, sah aber angeschlagen aus. Auf Deutsch beantwortete er die erste Frage, ob er sich noch als Deutscher fühle. Die Geburt habe ihn auf immer zu einem Deutschen gemacht, sagte er, Deutschland sei quasi sein Schicksal, das er gern annehme. Doch als Christ sei er auch noch in ein anderes Volk hineingeboren, in das endzeitlich neue „Volk aus allen Völkern“, die „Civitas Dei“, die globale Stadt Gottes.
Er zögerte auch bei der nächsten Frage nicht, was er zu den Missbräuchen innerhalb der katholischen Kirche sage. Er könne jeden verstehen, gab er ohne Umschweife und nüchtern zurück, den diese unglaublichen Skandale veranlassen würden, der Kirche den Rücken zu kehren. Doch sei dabei auch nach einer Krise des Kirchenbildes und der Entfremdung überhaupt zu fragen, die es zu heilen gelte. Wo Gott aus dem Gedächtnis schwinde, könne die Kirche auch nicht mehr als „das schönste Geschenk Gottes“ erkannt werden. Nach den Protesten in Deutschland wurde er auch gefragt. Was, so antwortete der Papst, sollte er dagegen haben? „Das ist normal in einem freien Land.“
Nach der Landung in Tegel dann fuhr er zu Bundespräsident Christian Wulff, dem er gleich die Aufgabe eines Papstes beschrieb. „Es bedarf unser Zusammenleben einer verbindlichen Basis“, sagte Benedikt, „sonst lebt jeder nur noch seinen Individualismus. Die Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander.“ Vor dem obersten Repräsentanten des freiheitlichen Verfassungsstaates zitierte Benedikt den katholischen Sozialreformer Wilhelm von Ketteler: „Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion.“
Doch während solche Sätze noch den Erwartungen entsprachen, so schien Benedikt später im Bundestag auf das Prinzip der produktiven Enttäuschung zu setzen. Enttäuscht wurden von dem wie immer modulationsarm sprechenden Papst zunächst all jene, die sich ein einfaches Plädoyer für das Christliche in der Politik erhofft hatten. Für schnellen Jubel der C-Politiker war der Vortrag mit Zitaten von Origenes (3. Jahrhundert) bis zum Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881-1973) viel zu akademisch. Enttäuscht wurden aber auch diejenigen, die ein kraftvolles Bekenntnis zur europäischen Einigung in Zeiten der Überschuldung erwartet hatten. Nein, von Europa war vielmehr im Zusammenhang mit den Grundlagen unserer Kultur die Rede. Allerdings hatte Benedikt bereits am Vormittag bei einem vertraulichen Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die wichtige Rolle Deutschlands in der Euro-Krise lobend erwähnt.
Zitat aus dem Buch der Könige
Im Bundestag ging es dem Papst um anderes. Nämlich darum, den staatlichen Gesetzgeber daran zu erinnern, dass ihm der Katholizismus in ethischen Grundsatzfragen entscheidende Orientierungen bieten könne.
Benedikt XVI. begann mit dem ersten Buch der Könige in der Bibel, wo der junge König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte bei Gott frei hat. Salomon wünscht sich nicht Reichtum oder ein langes Leben, sondern: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.“ Daraus entfaltete Benedikt ein Plädoyer für das Recht, das die Gemeinschaft vor aggressiven Machtansprüchen bewahrt und die Würde des Menschen schützt.
Doch woher, so fragte Benedikt weiter, kommt jenes Recht, anhand dessen wir Gut und Böse unterscheiden können? Ohne Weiteres von Gott komme es nicht: „Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben“, sagte er. Das Christentum habe „stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt“. Und damit wurde seine Rede brisant.
Denn indem Benedikt bei der Suche nach Rechtsgründen auf die Natur verwies, brachte er das katholische Naturrecht ins Spiel, das heute „als eine katholische Sonderlehre“ gelte, „über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, sodass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen“. Dem Papst aber ist dieses Naturrecht enorm wichtig. Denn nach dieser Lehre drückt sich in der Natur und der Schöpfung nicht einfach Gottes Kraft aus. Vielmehr manifestieren sich in Gottes Schöpfung auch ethische Prinzipien. So geht das katholische Naturrecht davon aus, dass die geschlechtliche Liebe der Zeugung von Kindern diene und daher notwendig die Liebe keine homosexuelle sein dürfe, sondern eine zwischen Mann und Frau sein müsse. Oder dass die Menschenwürde bereits im Naturprozess der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entstehe, sodass jede Forschung an embryonalen Stammzellen genauso wie jede Selektion von schwerstbehinderten Embryonen bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) strikt abzulehnen sei.
All dies erwähnte Benedikt im Bundestag nicht explizit. Aber seine Verteidigung des katholischen Naturrechts bedeutet, dass er im Deutschen Bundestag dessen Gesetze zur begrenzten Freigabe der PID, zur Stammzellenforschung und auch zur Beendigung der Lebenserhaltung bei Schwerstkranken auf der Grundlage ihrer Patientenverfügungen für unvereinbar mit christlichen Rechtsauffassungen erklärte. Intellektuell geschickter hätte der Gast das Hohe Haus kaum angreifen können.
Dass es Papst Benedikt tatsächlich um solche konkreten Fragen der Bioethik ging, machte er deutlich, als er ausführte: „Der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört.“
Man brauchte daher keine Interpretationsraffinesse, um beim Papst hier ein implizites Plädoyer für jenes schwarz-grüne Bündnis zu entdecken, das in der Bioethik in den vergangenen Jahren besonders nah an der Linie der katholischen Kirche lag. Wie um dies auch deutlich zu machen, verwies der Papst sogar in paradoxer Ausdrücklichkeit auf die Grünen. Beim „Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er-Jahren“ sei „jungen Menschen bewusst geworden, dass irgendetwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen.“ Wer da immer noch nicht begriffen hatte, dass Benedikt an die Grünen dachte, konnte es gleich im Anschluss lernen: „Es ist wohl klar, dass ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies“, sagte der Papst. Und jeder konnte wissen, was gemeint war.
Nein, um Parteien ging es Benedikt tatsächlich nicht. Sondern eben um das Naturrecht – wobei sich die anwesenden Grünen-Abgeordneten anschließend fragen konnten, ob sie sich freuen sollten, weil der Papst ihre Würdigung der Natur gelobt hatte, oder sich ärgern sollten, weil die katholische Kirche aus dem Naturrecht ja auch die Ablehnung der Homosexualität herleitet.
Ein angriffslustiger Besucher
Durchaus angriffslustig war der Papst auch nach seiner Bundestagsrede, als er in einem Nebenraum vor Vertretern des Judentums in Deutschland sprach. Er griff aber nicht die Juden an, im Gegenteil, sondern die Traditionalisten von der ultrakonservativen Pius-Bruderschaft. Diese nämlich behauptet, dass durch das Christentum ein völlig neuer Bund Gottes mit den Menschen geschlossen werde, sodass ein theologisch tiefer Bruch zwischen dem jüdischen Gesetz und dem christlichen Erlösungsglauben bestehe.
Gegen diese Sicht wandte sich Benedikt ganz entschieden, indem er sagte: „Für Christen kann es keinen Bruch im Heilsgeschehen geben. Das Heil kommt nun einmal von den Juden. Tatsächlich hebt die Bergpredigt das mosaische Gesetz nicht auf, sondern enthüllt seine verborgenen Möglichkeiten und lässt neue Ansprüche hervortreten. Sie verweist uns auf den tiefsten Grund menschlichen Tuns, das Herz, wo der Mensch zwischen dem Reinen und dem Unreinen wählt, wo sich Glaube, Hoffnung und Liebe entfalten.“
Zwar entspricht dies der katholischen Lehrmeinung schon seit Johannes Paul lI. Doch so deutlich und mit so klar erkennbarer Abgrenzung von den Piusbrüdern wurde dies schon lange nicht mehr gesagt. Wie um jedes Missverständnis über den Verkündigungsauftrag der katholischen Kirche auszuräumen, betonte Benedikt: „Zugleich ist uns allen klar, dass ein liebendes, verstehendes Ineinander von Israel und Kirche im jeweiligen Respekt für das Sein des anderen immer noch weiter wachsen muss und tief in die Verkündigung des Glaubens einzubeziehen ist.“ Wie hatte der Papst-Sprecher Federico Lombardi nach Benedikts Treffen mit Kanzlerin Merkel am Mittag gesagt? Merkels Kritik an der Aufhebung der Exkommunikation des Holocaust-Leugners Richard Williamson von den Piusbrüdern habe das Treffen von Papst und Kanzlerin „absolut nicht“ belastet.
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