Am 1. April 1933 inszenierten die Nazis den ersten Boykott jüdischer Geschäfte. Aber viele Deutsche ließen sich vom Kauf nicht abschrecken

Die Vorlage war perfekt – besser hätte sich kein Nationalsozialist den Vorwand für ein Pogrom ausdenken können. In ihrer auflagenstarken Freitagsausgabe vom 24. März 1933 hatte die Londoner Zeitung „Daily Express“ getitelt: „Judea declares war on Germany“, übersetzt etwa: „Das Judentum erklärt Deutschland den Krieg.“ Davon war allerdings im gesamten Artikel nicht mit einem Wort die Rede; vielmehr ging es um den Aufruf britischer Händler, wegen der antisemitischen Ausschreitungen in Hitler-Deutschland keine deutschen Waren mehr zu kaufen.

Als Joseph Goebbels von der Schlagzeile erfuhr, wurde er sofort aktiv und bot dem „Express“-Korrespondenten in Berlin, Sefton Delmer, eine Entgegnung an. Der Artikel erschien umgehend im Schwesterblatt des „Daily Express“, dem „Sunday Express“. In sein Tagebuch notierte der frisch ernannte Propagandaminister zwar: „Guter Erfolg“. Doch das war ihm nicht genug: Die Vorlage der britischen Zeitung wollte Goebbels für eine erste deutschlandweite antisemitische Aktion nutzen.

Seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und besonders dem Reichstagsbrand vier Wochen später machten SA- und SS-Trupps schon Jagd auf echte oder vermeintliche NS-Gegner. Die Polizei gebot ihnen nur sehr selten Einhalt – eigentlich nur, wenn wichtige wirtschaftliche Frage berührt waren. Von Anfang an zielten die Gewaltexzesse auf linke Politiker und Publizisten sowie auf Juden, ob nun wohlhabend oder arm.

Julius Streicher wollte „aufräumen“

Doch solche Einzelaktionen befriedigten den Hass radikaler Antisemiten nicht. Der besonders primitive Gauleiter von Franken, Julius Streicher, etwa hatte im März wiederholt die Genehmigung Hitlers verlangt, mit den Juden in seiner Region „aufzuräumen“. Ohne Vorwand jedoch wäre das politisch riskant gewesen, erst recht vor Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, für die Hitler wenigstens einige Dutzend Stimmen des katholischen Zentrums brauchte.

Just am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes brachte der „Daily Express“ seine irreführende Schlagzeile – nun hatten Goebbels und Streicher leichtes Spiel, die Zustimmung ihres „Führers“ für eine reichsweite Aktion zu bekommen. Einige Tage Vorbereitung brauchten dafür selbst die Nazis. Denn sie wollten vor allem Eindruck machen.

Umgehend machte sich Goebbels ans Werk. Schon am Sonntag, dem 26. März 1933, schrieb er den Aufruf zum Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland ab dem 1. April – angeblich als „Antwort“ auf die britische „Gräuelpropaganda“. Die Veröffentlichung war für den folgenden Dienstag vorgesehen – doch Goebbels wurde davon überrascht, dass mehrere jüdische Organisationen in Großbritannien schon am Montag vehement der „Express“-Schlagzeile öffentlich widersprachen: Sie befürchteten, dass solche Zuspitzungen das Los der deutschen Juden erschweren würden. Sie sollten Recht behalten.

Das Kabinett stimmte zu

Denn die NSDAP war nun auf Angriffskurs: Die Parteiblätter schürten in harschen Worten den Hass, während gleichzeitig Parteifunktionäre Plakate vorbereiteten und SA-Trupps sich für Sonnabend freinahmen. Sogar das Kabinett stimmte dem Boykottaufruf offiziell zu. In den frühen Morgenstunden des 31. März 1933 notierte der Nachtmensch Goebbels dann: „Der Boykott läuft an. Morgen wird die Welt ein Wunder sehen.“

Wunder oder nicht: Jedenfalls bekamen die Passanten auf Berlins Hauptstraßen und in den Geschäftsvierteln mehrerer anderer großer Städte am 1. April etwas bis dahin Unvorstellbares zu sehen: Vor Geschäften jüdischer Eigentümer standen SA-Männer in Uniform, meist mit Plakat mit der Aufschrift: „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“

An vielen Litfaßsäulen prangte dieselbe Botschaft, hier sogar gleich noch ins Englische übersetzt. Das war als „Service“ für ausländische Korrespondenten und Besucher gedacht. Auf viele Schaufenster malten SA-Leute mit weißer Farbe antisemitische Schmähungen. Ab zehn Uhr standen die Hitler-Anhänger demonstrativ breitbeinig vor den Eingängen der Geschäfte, um potenzielle Käufer abzuschrecken.

Besonders getroffen waren Kaufhäuser. Gegen diese aufstrebende Branche hegten ohnehin viele NSDAP-Wähler besondere Abneigung, zogen die attraktiven Anbieter doch kleineren Geschäften erfolgreich Kunden ab. In Berlin traf es Kaufhäuser wie Tietz am Alexanderplatz oder das KaDeWe an der Tauentzienstraße, auch das renommierte Geschäft von Nathan Israel am Roten Rathaus ließ aus Sicherheitsgründen die Gitter an diesem Morgen geschlossen.

Juden wurden „vorsorglich“ entlassen

Um Ähnlichem zu entgehen, hatte das „arisch“ geführte Kaufhaus Karstadt am Berliner Hermannplatz „vorsorglich“ alle jüdischen Angestellten nach dem Boykottaufruf Ende März fristlos entlassen. Die Begründung war so einfach wie absurd: Weil diese Mitarbeiter den Zorn der Nazis auf sich zogen, störten sie den Betriebsfrieden. So wurden aus Opfern vermeintlich Schuldige.

Auf den Haupteinkaufsstraßen funktionierte die antisemitische Aktion einigermaßen. Joseph Goebbels übertrieb nur ein wenig, als er voll Stolz notierte: „Über den Tauentzien. Alles in Boykott. Musterhafte Disziplin. Ein imponierendes Schauspiel. Alles verläuft in vollster Ruhe.“

Doch abseits der Boulevards sah es anders aus. Hier ignorierten Kunden zunehmend die SA-Posten vor den Eingangstüren, umgingen sie oder drängten sich einfach vorbei. Gegen ganz normale Bürger aber wagten die SA-Leute nicht so vorzugehen wie gegen Kommunisten. Die Kinderärztin Hertha Nathorff, als Tochter einer liberalen jüdischen Familie selbst vom Rassenhass betroffen, erlebte es selbst: „Ich selber habe heute mit Absicht in Geschäften gekauft, vor denen ein Posten stand. Einer wollte mich hindern, in ein kleines Seifengeschäft zu gehen. Ich schob ihn aber auf die Seite mit den Worten: ,Für mein Geld kaufe ich, wo ich will.’“

„Arische“ Kaufleute beschwerten sich

Derlei gab es nicht nur in der Reichshauptstadt. In Leipzig etwa sah Erich Ebermayer, Sohn eines pensionierten Oberreichsanwaltes und überzeugter Hitler-Gegner, dass jüdische Läden mit großen gelben Kreisen auf den Schaufenstern markiert waren. Bewusst ging der Schriftsteller zu einem Geschäft, vor dem zwei Braunhemden standen: „Beim Betreten des Ladens sagt der SA-Mann in durchaus höflichem, diszipliniertem Ton: ,Jüdisches Geschäft!’ Wir, ebenso höflich und diszipliniert: ,Danke, wir wissen Bescheid!’ Erstaunter Blick des SA-Manns, aber nirgends eine Anpöbelei.“

Das internationale Echo auf den Boykott war verheerend: Reihenweise stornierten ausländische Abnehmer schon nach der Veröffentlichung des Aufrufes ihre Bestellungen bei deutschen Firmen. Britische, französische und US-Zeitungen berichteten groß und ausschließlich in negativem Ton über die Aktion. Aber auch „arische“ Kaufleute beklagten sich: Die Kauflaune der bürgerlichen Kundschaft in Berlin war durch die Präsenz der SA extrem gebremst worden, der 1. April 1933 wurde zum umsatzschwächsten Sonnabend seit langem.

Ursprünglich hatte der Boykott mehrere Tage dauern sollen, war dann aber zunächst auf den Sonnabend begrenzt worden und sollte dann am Mittwoch fortgesetzt werden. Statt dessen beschloss das Reichskabinett am Dienstag: „Boykott wird nicht wieder aufgenommen“, wie Goebbels knapp in seinem Tagebuch festhielt.

Hitler zog Konsequenzen

Kurz zuvor hatte der Propagandaminister sich selbst das Gegenteil einzureden versucht: „Boykott großer moralischer Sieg!“ In Wirklichkeit war es ein Fiasko. Statt gefeiert zu werden als vermeintlich „mutiger Schlag“ gegen das „Weltjudentum“, schuf die Aktion innen- und außenpolitisch neue Schwierigkeiten. Aus London etwa schrieb der deutsche Diplomat und Hitler-Gegner Albrecht von Bernstorff an eine Freundin in Deutschland: „Das neue Regime wird nicht umhin können, um das Wohlwollen der angelsächsischen öffentlichen Meinung zu werben. Wobei allerdings nicht verkannt werden darf, dass allein schon ein einziger Faktor, wie das Vorgehen gegen die Juden, zwangsläufig die öffentliche Meinung der angelsächsischen Länder von vornherein auch weiterhin gegen uns aufbringen wird.“

Da solche Reaktionen die Regel waren, nicht die Ausnahme, erkannte Hitler: Für ein offen aggressives Vorgehen der Regierung gegen deutsche Juden war es noch zu früh. Also schaltete er um auf eine andere Methode: schleichende Entrechtung und gleichzeitig Angriffe durch Parteiaktivisten, an denen die Regierung scheinbar unbeteiligt war.

An die Stelle offener Attacken trat nun kreative Unmenschlichkeit, die sich immer neue Schikanen einfallen ließ, um deutschen Juden das Leben schwer zu machen. Jüdische Ärzte durften bald niemanden mehr krankschreiben und bekamen kein Geld von Krankenkassen. Öffentliche Schwimmbäder erteilten Juden pauschal Hausverbot, jüdischen Kindergärten wurden die öffentlichen Zuschüsse gestrichen. Auf diese Weise wurden Juden viel effizienter als durch weitere Boykotte benachteiligt - und ohne, dass sich die Öffentlichkeit darüber aufregte.