Ausstellung

Die Schallplatte ist tot, es lebe die Schallplatte

| Lesedauer: 12 Minuten
Susanne Leinemann

Foto: Reto Klar

Es gab eine Zeit, da hörte man Musik von schwarzen, runden Scheiben aus Vinyl. In Neukölln gibt es dazu jetzt eine Ausstellung, das bald 100 Jahre alte Musikhaus Bading spielt darin eine Rolle.

Es gibt eine Frage, die man sich am späten Abend gerne stellt, so unter Freunden. Man sitzt gemeinsam in der Küche, die zweite Flasche Rotwein ist geöffnet, und dann sagt jemand lachend: „Deine erste Langspielplatte? Welche war das?“ Die Antworten treiben einem meist die Schamesröte ins Gesicht: ABBA, Electric Light Orchestra, Sandra, Saga, Matthias Reim. Oder die „Hit-Sensation“ von „Ariola“. Ältere Jahrgänge nennen Namen wie Cream, der heilige Bob oder Jimi Hendrix. Andere gehören gerade noch zu der Generation, in der sich Boybands und Vinyl ein letztes Mal verbündeten. Vor der CD. Plattengespräche sind ein gemütliches Thema, so ein Lagerfeuer-Thema. (Außer man ist zu jung für die Langspiel-Platte. Dann sitzt man stumm dabei. Wer erinnert sich schon an sein erstes Download-Lied?)

Das Museum Neukölln hat sich nun dieses schönen Themas angenommen. „Mythos Vinyl. Die Ära der Schallplatte“ heißt die Ausstellung, die Ende nächster Woche eröffnet. Fünfzig Neuköllner – alt und jung – haben dem Museum ihre Lieblingsplatte ausgeliehen. Und erzählen, was sie daran so fasziniert. Warum sie immer noch eine Gänsehaut beim Hören kriegen. Die Geschichte hinter der Platte. So wie am Küchentisch. Und eine Musikbox aus den 50er-Jahren findet sich plötzlich auch in den Museumsräumen: die erste deutsche Jukebox wurde in Neukölln von der Firma Wiegandt & Söhne produziert. Inzwischen existiert die Firma nicht mehr, aber die Jukebox, die hat all die Jahrzehnte überlebt. Jetzt ist sie im Museum gelandet. Gemeinsam mit der Schallplatte.

Ja, die Platte ist Vergangenheit. Museal. Ein Liebhaberobjekt – überrollt von iPods und superschlauen Handys. Dieser ganze Akt, eine Plattenhülle in die Hand zu nehmen, die Platte in ihrer Papierhülle aus der Pappe zu friemeln, danach vorsichtig das Vinyl zum Vorschein holen und auf den Plattentellerlegen. Der Arm betätigt sich mechanisch. Bloß keine Kratzer! Das ist alles so retro. Nur Liebhaber und Sammler können sich dafür noch begeistern. Und in den Berliner Clubs steht im Moment die Single hoch im Kurs, weil die DJs gerne mit zwei schicken kleinen Single-Plattenkoffern hinter das Mischpult treten. Eine kurze Mode, ein Gag. Morgen ist der Rausch wieder vorbei. Es ist klar, die Schallplatte kehrt nie wieder zurück.

Man steht in einer anderen Welt

Aber für manche ist es weiterhin ihr Leben. „Musik Bading“ leuchtet es grün von der Hausfassade an der Karl-Marx-Straße, darunter ein Notenschlüssel. Drumherum in Neukölln wuselt das Leben, gegenüber werden Billigklamotten abverkauft, türkische Mütter mit Kinderwagen schieben langsam daran vorbei. Auf dem Karl-Marx-Platz ist Markt. Aus einer Pizzabude riecht es würzig. Die Leute drängen zur U-Bahn. Und dann drückt man die Tür zum Musikhaus auf, auch hier ein Notenschlüssel als Türgriff, und steht in einer anderen Welt.

Bei Bading ist es ganz still. Keine Musik läuft. Es ist ein bisschen dunkel, aber angenehm. Auf einem Stuhl im Gang sitzt eine ältere Dame, Liane Bading, die Inhaberin. Hinter der Ladentheke steht eine weitere, Brünhilde Schibille lautet ihr schöner Name, sie ist die zweite Eigentümerin und feierte letzten Dezember ihren 90. Geburtstag. Der Laden selbst feiert dieses Jahr auch sein Jubiläum – 95 Jahre. Gegründet 1919.

„Mitte nächstes Jahr machen wir zu“, sagt Liane Bading. Sie sagt es müde. Am nächsten Tag muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, eine kleinere OP. Die über 70-Jährige hat den Kopf eigentlich nicht frei für Musik, Nostalgie und Schallplatten. „Die großen Medienmärkte haben uns kaputt gemacht.“ Einen Nachfolger gibt es auch nicht. Das Ende eines großen Neuköllner Traditionsgeschäfts.

„Eine Neuköllner Institution“

Das klingt jetzt nach einer traurigen Geschichte, und sie ist es auch. Es ist die Geschichte vom Ende einer Ära. Aber es ist auch eine schöne, rührende Begebenheit, eben weil „Musik Bading“ ein wichtiger und großer Laden war, nicht nur im Viertel, in ganz Berlin. Und das spürt und sieht man bis heute in jedem Winkel des Geschäftes. Deshalb ist es kein Zufall, dass die Ausstellung „Mythos Vinyl“ an der Familie Bading nicht vorbeikam. „Die Musikalien-Handlung Bading. Eine Neuköllner Institution“ heißt ein Kapitel im Katalog der Ausstellung (Katalog: „Mythos Vinyl – die Ära der Schallplatte“, 14,80 Euro). Viel große Geschichte und viele große Namen kommen dort vor: Richard Tauber, Wilhelm Furtwängler, Giacomo Puccini.

Aber jetzt noch keine Zeitreise in die Vergangenheit. Wie sieht der Laden heute aus? Wie gestern. Und das macht ihn so reizend. Vorne erwartet den Kunden hinter dem Verkaufstresen ein großes Regal mit vielen Schubladen und Fächern. Ein junger Mann betritt das Geschäft, ganz klar als Hipster zu erkennen, mit seinem Vollbart und seinem kleinen Zöpfchen am Hinterkopf. Er braucht eine Gitarrensaite. Dieter Götz, seit 1967 Angestellter im Hause Bading, zieht eine der Schubladen auf und holt die Saite heraus. Der Hipster verlässt glücklich das Geschäft. In ein paar Jahren kann er davon erzählen, dass er den Laden und seine Inhaberinnen noch kannte. In echt. Nicht aus dem Museum.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest“, sagt Liane Bading und steht auf. Ihre Schwägerin mit dem schönen Namen Brünhilde redet nicht viel. Muss man auch nicht mehr mit fast 91 Jahren.

Der zweite Raum ist der Plattenraum. Die hölzernen Plattenfächer sind fast leer, einige alte Schlagerplatten stehen noch und vergilben ein wenig. „Wir machen hier den Abverkauf“, sagt Herr Götz beiläufig, der gerade vorbeikommt. Werden keine neuen Platten mehr angekauft? Keine CD’s? „Ach“, Liane Bading winkt ab, „das lohnt sich doch nicht mehr.“ Die großen Ketten, die würden alles immer in so großer Stückzahl kaufen. „Wenn wir drei bestellen, bestellen die gleich hundert.“ Das hätte ihnen als Mittelständlern das Genick gebrochen. Vor uns sieht man einen verstaubten Plattenteller, der in einer hölzernen 50er-Jahre Musik-Theke steht. Der graue Kopfhörer liegt noch da. Hier konnte man sich also die Platten anhören? Sie nickt. Damals, die neueste Scheibe, gerade frisch eingetroffen bei Musik Bading.

Wo der Kunde einst in die ersten Schellack-Platten hineinhörte

Unten, im ausgebauten Keller, da gab es früher sogar elegante „Vorführräume“. Ein Schild weist noch heute dort hin. Die Wände mit Samt verkleidet, Seidenvorhänge am Fenster. Dort konnte man als Kunde in die ersten Schellack-Platten der deutschen Grammophon Gesellschaft hineinhören. Wie wertvoll eine Platte anfangs noch war! Damals hieß der Chef noch Erich Otto Bading, und der war wer in Neukölln. Aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, den er wild entschlossen war zu überleben, wandelte er die Eckkneipe seiner Eltern in besagtes Musikgeschäft um. Er verkaufte ab der Weimarer Zeit Instrumente, Notenblätter und Platten, engagierte sich dann auch als Konzertveranstalter. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt noch eine Theater- und Konzertkasse dazu, das Fenster dafür sieht man noch im Laden. Dahinter ein klassisches Theaterkassen-Regal mit lauter Fächern für Karten. Inzwischen lagern dort Geschäftspapiere und Papiertüten.

Ob ich die Geschäftsgründer sehen wolle? Liane Bading öffnet eine Samtkordel, die einen Schaufensterraum absperrt. Gitarren sind dort ausgestellt und Notenständer. In der Ecke ein kleiner Geschäftsgründer-Schrein: die Bilder von Erich Otto Bading und seiner Frau Hildegard, die er 1924 im Frack mit Zylinder heiratete. Sie war seine erste Angestellte. Ihre Voraussetzung für den Job? Hildegard konnte Klavier spielen. Drei Töchter und ein Sohn gehen aus der Ehe hervor, alle verbinden sich danach mit dem Musik-Geschäft.

Liane Badings Mann war der Sohn Hans-Joachim. Er baute begeistert eine Rundfunk- und Fernsehabteilung im Geschäft auf. Im Keller bot man Reparaturen an. Herr Götz, der langjährige Angestellte, war damals für den Kundenservice zuständig. Durch die ganze Stadt sei er zu den Kunden gefahren, schwärmt er. „Ganze Stadt“ hieß natürlich West-Berlin. Nach der Wende kurbelte das Geschäft richtig an. Alles hätten sie damals verkaufen können, wirklich alles. Das Angebot sei ihnen förmlich aus den Händen gerissen worden. Jetzt allerdings... Herr Götz schaut traurig. Was soll man groß sagen? Hinter ihm hängen die Plakate von Schlagerstars der 80er-Jahre. Dauerwelle und Föhnfrisur. Wer ist denn der? „Engelbert Humperdinck“, sagt Herr Götz. Und der daneben? Herr Götz schaut, schüttelt den Kopf. „Das weiß ich nicht mehr. Die sieht man ja kaum noch.“

Frank Zander hat hier seine erste Gitarre gekauft

Dann leuchtet sein Gesicht wieder. Frank Zander! Der hat hier seine erste Gitarre gekauft. Hier, in diesem Geschäft. Zander ist immer noch ein Freund des Hauses, hat die Fassade von „Musik Bading“ sogar auf einem seiner Bilder verewigt (Er malt auch). Er geht zurück in den Plattenraum, kommt mit einen Piccolöchen zurück. Frank Zander hat das Etikett gestaltet: „Prickelnixe“. „Ein Geschenk von Frau Bading“, sagt er. Liane Bading hat sich zurückgezogen. Nein, heute ist nicht der Tag für Nostalgie. Dafür hat sie keine Zeit.

Dass sich der Laden so lange halten konnte – trotz der Konkurrenz der Ketten – hat einen einfach Grund: den Badings gehört das Haus, sie zahlen deshalb keine Miete. Vorne bellt ein Hund, ein Rauhaardackel, Lara. Der Hund gehört der Buchhalterin, die noch alle 14 Tage kommt. Seit 44 Jahren arbeitet sie im Musik-Haus, das früher über dreißig Angestellte hatte. Alles an der Buchhalterin ist adrett: die gestärkten Haare, das Make-up, der Schmuck, die gebügelte Bluse. Sie verkörpert das resolute Berlin einer anderen Zeit.

Die Buchhalterin schimpft liebevoll mit Liane Bading, „wo hast du das denn wieder abgelegt?“. Man sucht Papiere, vermutlich liegen sie in irgendeinem der Fächer der früheren Vorverkaufskasse. Noch eine Papiertüte für das Sektfläschchen, auch sie ein Original in gedeckten 50er-Jahre-Farben mit dem Geschäft als Zeichnung vorne drauf. Beim Herausgehen eine kleine Sensation, die 90-jährige Brünhilde spricht, die letzte lebende Bading-Tochter. Man solle ja eine ordentliche Geschichte schreiben. „Nicht mit so vielen Fehlern“, sagt sie grimmig. Es ist Zeit zu gehen.

Es wird wieder still im Musikhaus. Draußen ist es laut auf der Karl-Marx-Straße. Die Tür schließt sich und ein vergessener, zauberhafter Ort bleibt zurück.

Die Ausstellung „Mythos Vinyl“ eröffnet im Museum Neukölln, Alt-Britz 81, am Freitag, den 16. Mai um 19 Uhr. Sie läuft bis zum 28. Dezember.