Die Ausbildung in Start-ups ist beliebt. Deren Chefs kritisieren jedoch die veralteten Lehrinhalte der begleitenden Berufsschule, die viele Jungunternehmen von der Ausbildung abhielten.

Als Victoria Gallerach vor anderthalb Jahren nach Berlin zog, war ihr völlig egal, in welchem Bereich sie das Praktikum für ihre Fachhochschulreife absolviert. „Ich hab was in Berlin gesucht“, sagt die gebürtige Thüringerin aus Artern. „Was, war Nebensache.“ Es war kein seit Kindesbeinen an gehegtes Bild eines Traumberufs, das Victoria an ihre jetzige Ausbildungsstelle als Kauffrau für Bürokommunikation brachte.

Doch auch, wenn das eigentliche Berufsbild keine Jubelschreie bei ihr auslöst – für ihren Arbeitsplatz brennt die 21-Jährige. Victoria Gallerach ist Auszubildende in einem Start-up, eines dieser kürzlich gegründeten Unternehmen also, die auf einer mehr oder weniger ausgefallenen Idee basieren und im Idealfall schnell wachsen. Oder nach einigen Monaten wieder verschwinden. Die Firma Pinkcube gehört zur ersten Kategorie. Seit ihrem Bestehen vervielfacht sich ihr Umsatz unaufhörlich. Gut eine halbe Million Euro werden es dieses Jahr sein, kalkuliert Chef Jos Jonkeren.

Der gebürtige Holländer gründete die Firma zum Vertrieb von hochwertigen, in Europa produzierten Werbeartikeln, sogenannten „Giveaways“, 2009 in den Niederlanden mit. Mitte 2012 eröffnete er die Berliner Dependance, damals waren sie noch zu zweit. Heute arbeiten in Berlin acht Menschen bei Pinkcube in einem kleinen Büro im 14. Geschoss des Hauses des Reisens am Alex, darunter eine Auszubildende. Am Montag kommt ein weiterer dazu, ein angehender Bürokaufmann für Marketing.

Wie bei hippen Berliner Start-ups üblich, warten die Arbeitsräume des Unternehmens mit einem Kickertisch, MacBooks und Club-Mate-Kästen auf. Die Frage, wo der angesagteste Hund der Saison, die französische Bulldogge, bleibt, wird durch das Erscheinen eines kleinen Boston-Terriers beantwortet.

Nach dem Praktikum die Ausbildung

„Wir sind wie eine kleine Familie“, sagt Victoria, die vor anderthalb Jahren mit einem Praktikum begann. Vor einigen Monaten wurde ihr klar, dass sie eine Ausbildung braucht. Und, dass sie bei Pinkcube bleiben will. So sprach sie mit Jonkeren, der sich kurzerhand bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) als Ausbilder anmeldete und Victoria so den beruflichen Weg ebnete. „Unter einer Firma für Werbeartikel konnte ich mir damals gar nichts vorstellen“, gesteht sie. „Aber die Arbeit macht mir Riesenspaß.“

Viel Kundenkontakt hat sie, über alle denkbaren Kanäle, sie sucht Produkte für die Klienten heraus, betreut den gesamten Bestellablauf. „Der Vorteil einer Ausbildung in einem Start-up ist, man kennt alle per Du“, meint Victoria. „Jos ist wie ein Freund, er lädt uns oft zum Essen ein, er hat ein offenes Ohr für Vorschläge und Probleme. Das motiviert natürlich.“ Das Gefühl, von Anfang an etwas mit aufgebaut zu haben, sei toll, das habe man in großen Unternehmen nicht. Für den Job ist nach ihrer Erfahrung eine schnelle Auffassungsgabe notwendig, keine Scheu vor Telefonaten und viel Kreativität „in jeder Hinsicht, denn oft geht mal was schief. Den Rest lernt man.“ In krassem Gegensatz zu Victorias Arbeitsalltag stehen die zwei Berufsschultage, an deren Inhalten sich ihr Chef stört. „Die lernen da veraltete Sachen“, so Jonkeren. „Diese Ausbildungsinhalte müssten dringend modernisiert werden.“

Ähnlich sieht das Tim Keding, Geschäftsführer des Start-ups Shoepassion in Mitte. Das Unternehmen mit einem Ladengeschäft in der Ackerstraße, das handgefertigte, rahmengenähte Schuhe direkt vom spanischen Hersteller vertreibt, bildet ebenfalls Kauffrauen und -männer für Bürokommunikation aus, die zweimal in der Woche im Berufsschulunterricht sitzen. „Um es vorsichtig auszudrücken: Die Ausbildungsinhalte der IHK sind auf klassische Branchen ausgerichtet, sie sind noch nicht so Start-up-optimiert“, so Keding. „Wenn eine Prüfungsordnung zehn Jahre alt ist, ist das im Internetzeitalter ein Jahrtausend.“ Das sei auch der Grund, weshalb so viele dieser jungen Unternehmen nicht ausbilden.

Neue Berufsbilder

Keding ist sich sicher, dass dies viel mehr Start-ups täten, wenn die Ausbildungsinhalte modernisiert würden. Bisher hinkten diese der schnelllebigen Welt der Internet-Firmen erheblich hinterher, da griffen viele lieber auf Praktikanten zurück. Nicht umsonst heißen Start-ups auch Praktikantenschmieden. Bei Shoepassion werden sie laut Keding „homöopathisch“ eingesetzt. „Wir gehen mit dem Thema Personal nachhaltig um, und Praktikanten sind zu kurzlebig. Da es in unserem Bereich so viele Berufsbilder gibt, für die es noch keine qualifizierten Leute, geschweige denn eine Ausbildung gibt, wie E-Commerce-Kaufmann, haben wir uns entschieden, Leute mit Potenzial selbst auszubilden.“

Zu denen gehören auch Nele Homersen und Benni Prosch, die vor kurzem ihre Ausbildung bei Shoepassion beendet haben und beide übernommen worden sind. „Ich wusste nach der Schule gar nicht, was ich machen soll“, erzählt Nele aus Treptow-Köpenick, Kauffrau für Bürokommunikation. „Dann hab’ ich erst einmal mein Fach-Abi in Richtung Wirtschaft gemacht und bin dann auf Umwegen hier gelandet.“ Die 20-Jährige war in ihrer Berufsschulklasse die einzige aus einem Start-up. „Man kriegt viel mehr mit in so einem kleinen Unternehmen. Alle Mitarbeiter machen vieles zum ersten Mal, weshalb ein Azubi und ein Angestellter sich auf Augenhöhe begegnen.“ So sieht das auch Benni Prosch. Der 28-jährige Hamburger schmiss sein BWL-Studium, weil es ihm zu weltfremd und theoretisch war, begann die Ausbildung zum Kaufmann für Marketingkommunikation bei Shoepassion und kümmert sich um das Online-Marketing. Auch er bemängelt die Ausrichtung der Berufsschule. „Das wird vielleicht in Behörden angewendet, aber mit meinem Profil haben die Inhalte herzlich wenig zu tun.“

Wettbewerb von IHK und Handwerkskammer

Wie diese beiden Betriebe bilden tausende Berliner Firmen Nachwuchs aus, manche bieten ihren Lehrlingen sogar weit mehr als die vorgeschriebenen Ausbildungsinhalte. Handwerkskammer und IHK suchen deshalb gemeinsam die besten Ausbildungsbetriebe Berlins, um deren gesellschaftlichen Einsatz öffentlich zu machen – in diesem Jahr zum zehnten Mal. Für die Betriebe sei eine solche Auszeichnung die beste Werbung als attraktiver Ausbilder, sagte Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD).

Bis zum 30. April 2014 können alle Berliner vorbildliche Ausbildungsbetriebe vorschlagen. Firmen können sich auch selbst bewerben. Es gibt zwei Kategorien: Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten und Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten, jeweils einschließlich Auszubildende. Ausgezeichnet werden je zehn Firmen, ein Sieger und neun ohne Rangfolge.

Die Preisträger ermittelt eine Jury, der Vertreter der beiden Kammern, Arbeitssenatorin Kolat und Jochim Stoltenberg von der Berliner Morgenpost angehören. Die Sieger werden am 11. Juni 2014 auf der Messe „Tage der Berufsausbildung“ ausgezeichnet. Das Bewerbungsformular und weitere Informationen stehen unter www.tage-der-berufsausbildung.de.