Messerangriff

16-Jähriger verletzt - Polizei sucht Frauen aus dem Auto

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C. Brüning, P. Oldenburger und S. Pletl

Foto: Steffen Pletl

Ein 16-Jähriger überquerte mit Freunden eine Kreuzberger Straße. Ein Autofahrer fühlte sich davon offenbar gestört. Er stach auf den Austauschschüler ein und flüchtete. Die Polizei sucht Zeugen.

Eine Gruppe Jugendlicher überquert nachts in Berlin eine Straße. Ein Autofahrer muss bremsen und regt sich auf. Er steigt aus, zückt ein Messer und verletzt einen der Teenager lebensgefährlich. Einfach so.

Es ist eine Nichtigkeit, die den Streit auslöst. Und wieder ein Fall, bei dem im Berliner Stadtverkehr ein Streit mit einem plötzlichen Gewaltausbruch endet. Fünf Jugendliche sind es, die in der Nacht zu Donnerstag in Kreuzberg unterwegs sind.

Sie sind als Austauschschüler in Deutschland, sie kommen aus Bolivien. Die Gruppe ist über Silvester zu Besuch in Berlin. Kurz nach Mitternacht, um 0.15 Uhr, sind sie am Halleschen Tor. Sie kommen aus Richtung des U-Bahnhofs und gehen über die Straße.

Ein Autofahrer fühlt sich von ihnen offenbar an der Weiterfahrt gehindert. Er ist in Richtung Potsdamer Platz unterwegs, vermutlich muss er wegen der Jugendlichen bremsen. Ein Streit bricht los.

Der Mann steigt aus seinem Auto aus. Er schlägt auf einen 16-Jährigen ein, zieht ein Messer, sticht zu. Dann flüchtet er in seinem Wagen. Der 16-Jährige kommt lebensgefährlich verletzt ins Urban-Krankenhaus. Nach Informationen der Berliner Morgenpost soll er Chelino heißen. Das Messer soll ihn im Oberkörper getroffen haben.

Wie die Polizei berichtete, war der Autofahrer nicht alleine, sondern mit drei Frauen unterwegs. Sie alle seien aus dem Wagen ausgestiegen und wurden wie die übrigen Jugendlichen Augenzeugen des Gewaltausbruchs. Der Täter soll 25 bis 35 Jahre alt und auffällig groß sein – laut Beschreibung etwa 1,95 Meter. Zeugen zufolge soll der Mann südländisch, vermutlich türkisch gewesen sein, teilte die Polizei am Donnerstag mit.

Mordkommission der Polizei hat die Ermittlungen übernommen

Auch zwei der drei Frauen hätten ein südländisches Aussehen gehabt, hieß es. Sie seien etwa gleichen Alters wie der Mann und hätten Kopftücher getragen. Eine dritte Frau habe lange, lockige und blonde Haare gehabt. Der Wagen des Täters soll ein heller Viertürer mit abgerundeter Heckpartie sein. Auffällig seien die glänzenden, neu wirkenden Felgen gewesen, hieß es weiter.

Eine Mordkommission der Polizei hat die Ermittlungen übernommen und bittet Zeugen dringend, sich mit Hinweisen zu melden. Besonders appellieren die Ermittler an die drei Frauen im Wagen des Täters, sich zu melden und eine Aussage zu machen. Ein Schüler habe schwerste Verletzungen aus nichtigem Anlass davon getragen, hieß es bei der Polizei mit Nachdruck: „Es muss erwähnt werden, dass – falls sich die Begleiterinnen nicht bei uns melden sollten – auch gegen sie ermittelt werden kann.“

Hinweise werden unter der Telefonnummer (030) 4664-911222 entgegen genommen.

Es gebe inzwischen vier Hinweise von Zeugen, sagte eine Polizeisprecherin am Freitag. Jede mögliche Spur werde akribisch ausgewertet.

Der 16-Jährige liege weiter auf der Intensivstation. Er sei noch nicht vernehmungsfähig, so die Sprecherin.

Aggressionen im Straßenverkehr

Aggressionen im Straßenverkehr eskalieren in Berlin häufiger in Gewalttaten, wie zwei Beispiele aus dem vorigen November belegen. Weil ein 33-Jähriger sich auf dem Stadtring an einer Fahrbahnverengung mit seinem Transporter vor einen BMW einfädelte, der ihn zuvor daran gehindert hatte, kam es am 21. November 2013 auf der A100 zu einer wüsten Schlägerei. Der 24 Jahre alte BMW-Fahrer schlug mit einem Schlagstock auf den Beifahrer des Transporters ein, der 33-Jährige kam zu Hilfe und konterte mit Faustschlägen. Den Fluchtversuch des BMW-Fahrers konnten Polizisten verhindern.

Zehn Tage zuvor war ein 36 Jahre alter Opel-Fahrer in der Luxemburger Straße in Wedding von einem Pkw ausgebremst und von zwei Insassen bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen worden. Der 36-Jährige hatte nach Ansicht der Schläger an einer auf Gelb umspringenden Ampel „zu früh“ angehalten. Zeugen sahen, wie der längst am Boden liegende Mann mit Füßen getreten wurde, bevor die Täter flüchteten.

Zunehmende Enthemmung

Aggressivität gerade bei Männern, habe es immer gegeben, sagt Bernd Ahrbeck, Aggressionsforscher an der Humboldt-Universität. „Wir beobachten allerdings eine zunehmende Entgrenzung.“ Nicht die Zahl der Fälle sei das Problem, sondern die Heftigkeit der Taten. „Die innerlich hemmenden Kräfte gegen einen Gewaltausbruch scheinen bei manchen Menschen stark gelockert zu sein“, sagt der Professor. Zwar sei die Theorie bereits oft zitiert, aber auch er sehe einen Grund für die fehlenden Hemmungen in der Darstellung von Gewalt in Filmen, Computerspielen oder Medien.

Auch die sozial hemmenden Kräfte gegen Gewalteskalation sieht Ahrbeck schwinden. „Möglicherweise ist die Toleranz in der Gesellschaft gegenüber Gewalt noch zu groß, reagieren auch die Institutionen zu zaghaft und langsam. Auf Gewalt muss sofort eine adäquate Reaktion folgen, damit die Täter einordnen können, welche Folgen ihr Handeln hat.“

Eigene Gewalterfahrungen etwa in der Kindheit würden als Erklärung nicht ausreichen, so der Professor. Zwar hätten etwa 80 Prozent der jugendlichen Intensivtäter solche Erlebnisse gehabt – aber jeder fünfte von ihnen eben nicht. Zudem gebe es viel mehr Gewaltopfer als Täter. „Also nicht jeder mit Gewalterfahrung wird selbst aggressiv, dazu braucht es schon mehr Faktoren.“ Was genau in einem Menschen vorgeht, der wegen einer Nichtigkeit völlig aggressiv reagiert, sei unklar, sagt Ahrbeck. „Das wüsste ich ehrlich gesagt auch gern.“