Gastbeitrag

Wie Thilo Sarrazin aus Kreuzberg verjagt wurde

| Lesedauer: 10 Minuten
Thilo Sarrazin

Foto: ANADOLU AJANSI

Thilo Sarrazin wollte mit dem ZDF einen Spaziergang durch Kreuzberg machen. Dieser Ausflug wurde jedoch zum Spießrutenlauf. Unter Rufen wie "Nazis raus" verließ das Team den Bezirk. Bei Morgenpost Online schreibt Sarrazin über einen denkwürdigen Nachmittag.

Zur Frage der Integration von Migranten aus muslimischen Ländern enthält mein Buch „Deutschland schafft sich ab“ zahlreiche statistische und analytische Aussagen sowie Schlussfolgerungen daraus. Über die Interpretation des einen oder anderen Sachverhalts kann man sicherlich unterschiedliche Einschätzungen haben. Beleidigungen oder allgemeine Abqualifizierungen der Türken oder Araber als Volksgruppe oder des Islam als Religion enthält das Buch jedenfalls nicht.

Gleichwohl kamen aus islamischen Verbänden, insbesondere aber der türkischen Gemeinschaft in Deutschland, immer wieder Vorwürfe, ich hätte „Ausländer“ oder „Muslime“ oder „Türken“ mit meinem Buch kollektiv beleidigt. Es war gegenüber denen, die solche Vorwürfe erhoben, nicht kommunizierbar, dass statistische Vergleichsdaten entweder valide sind oder nicht, aber niemals etwas über den einzelnen Fall aussagen. Statistiken müssen dem Wahrheitskriterium genügen, ihre Interpretation muss vorsichtig erfolgen, Rahmenbedingungen müssen dabei beachtet werden. Beleidigen können sie niemals, wenn sie nicht mit Beleidigungsabsicht gefälscht sind.

Über diese Tendenz bei Vertretern muslimischer Migranten, auf unbequeme Tatsachen beleidigt zu reagieren, und den Versuch, bei denen Schuldgefühle zu wecken, die unangenehme Tatsachen aussprechen, unterhielt ich mich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in Istanbul im September 2010 mit Necla Kelek. Sie beruhigte mich, das müsse ich nicht so ernst nehmen. Die Tendenz, beleidigt zu reagieren, und der Versuch, beim Gegenüber Schuldgefühle zu wecken, seien in der orientalischen Mentalität und dem islamischen Glauben tief verankert. Das sei eine gezielte Strategie, um in einer Diskussion Vorteile zu gewinnen. Ich wunderte mich ein wenig über diese robuste Antwort. Aber sie passte zu dem, was schon Walter Laqueur über das ewige Beleidigtsein der Araber in Frankreich geschrieben hatte.

Bisher keine Anfeindungen

Dieser Tage drehte das ZDF anlässlich der bevorstehenden einjährigen Wiederkehr des Erscheinungsdatums meines Buchs einen Film über mich. In diesem Zusammenhang erklärte ich mich bereit, zusammen mit dem Fernsehteam einen Gang durch Kreuzberg zu machen. Ich hatte in den zehn Monaten seit Erscheinen meines Buchs niemals das Gefühl gehabt, auf der Straße besonderen Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Diesmal, im Angesicht der Fernsehkameras, war das anders.

Zunächst gingen wir über den sogenannten Türkenmarkt, auf dem im Wesentlichen Obst und Gemüse und preisgünstige Textilien feilgeboten werden. Das Verhalten der Verkäufer änderte sich, sobald sie die Fernsehkamera sahen: Die einen zogen sich zurück und wollten gar nichts sagen. Die anderen drehten auf, priesen die Arbeitsleistung der Türken in Deutschland und klagten mich an, Vorurteile zu wecken. Versuche zum sachlichen Diskurs blieben vor der Kamera weitgehend wirkungslos. Ein besonders zorniger Mann von etwa 50 Jahren stelle sich mir in den Weg, und es entspann sich folgender, von seiner Seite laut gebrüllter, Dialog:

Schreihals: Sie sagten, dass Ausländer nur Ahnung von Obst und Gemüse haben und beruflich ansonsten keine Ahnung haben. Aber wissen Sie, dass wir auch in der Politik sind? Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben?

Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, 35 Prozent der Araber und Türken in Berlin leben von Hartz IV.

Schreihals: Was wollen Sie denn ändern? Die Ausländer bemühen sich doch schon. Haben Sie mal gesehen, wie viele Deutsche betteln? Haben Sie hier einen Ausländer betteln sehen?

Es geht doch nicht um Ausländer. Ich habe übrigens nie von Ausländern gesprochen.

Zuhörender Mann: Sarrazin hat recht. Ich bin ja selber Pole.

Schreihals: Aber allgemein. Araber oder Türke, Polen.

Polen beziehen weniger Hartz IV und machen mich nicht beleidigt an wie Sie.

Ein Verkäufer: Ich bin Türke.

Jeder, der arbeitet, hat meinen Respekt.

Eine Menschentraube hatte sich mittlerweile um uns versammelt. Politisch korrekte Marktbesucher aus dem Kreuzberger Milieu skandierten „Rassist“ und „Nazis raus“ – von solchen Rufen begleitet, verließ ich mit der Journalistin Güner Balci schließlich betont gemessenen Schrittes den Türkenmarkt.

Als Nächstes war ein Mittagessen im Restaurant „Hasir“ und dabei ein Gespräch mit Ahmet Aygün, einem der Eigentümer, geplant. Die Familie von sechs Brüdern besitzt in Berlin fünf Restaurants, ein Viersternehotel und baut gerade eines mit fünf Sternen.

Wir parkten etwa 100 Meter vom Restaurant entfernt. Beim Aussteigen sah mich ein junges, gut gekleidetes Paar offenbar türkischer Abstammung. Der Mann trug eine Sonnenbrille. Die Frau war sehr schlank und auf etwas anämische Weise intellektuell wirkend. Es entspann sich folgender Dialog, vom Mann mit höchster Lautstärke gebrüllt:

Mann: Das ist ja der Sarrazin. Dieser Mann hat die Menschen beleidigt. Sarrazin raus aus Kreuzberg.

Frau: Sie sind ein Rassist.

Ich glaube, Sie beleidigen mich gerade.

Mann: Sie haben die Leute beleidigt und jetzt laufen Sie hier. Das ist unglaublich. Sarrazin raus aus Kreuzberg!

Frau: Sie haben hier nichts zu suchen.

Das junge Paar verfolgte uns

Eine vernünftige Diskussion war nicht möglich. Wir gingen schließlich Richtung Restaurant. Das junge Paar verfolgte uns, der Mann dabei brüllend „Da kommt Sarrazin, der Rassist“. Als wir das Restaurant betraten, flippte er fast aus vor Empörung. Die Frau rief laut ins Lokal: „Ich als Kreuzbergerin möchte nicht mehr in diesem Laden essen gehen, da er so verpestet ist nach dem Besuch von Sarrazin mit seinen Thesen. Ich werde Freunde anrufen.“ Ein Kellner antwortete auf Türkisch, er habe vom Chef Anweisung, mich zu bedienen, und könne nichts dafür.

Der Mann brüllte ununterbrochen weiter, zog sein iPhone hervor und sprach in den Brüllpausen ins Telefon. Das Gebrüll, das er durch das offene Fenster in das Lokal hinein fortsetzte, zog allmählich einen Menschenauflauf zusammen.

In diesem Augenblick kam der Manager Hikmet Kundakci zur verabredeten Zeit durch die Tür, ein freundlicher Mann in mittleren Jahren. Wir begannen ein höfliches Gespräch über die Restaurants und Hotels der Familie Aygün, aber das Gebrülle draußen und der wachsende Menschenauflauf, aus dem der schreiende Mann mit der Sonnenbrille immer mehr Unterstützung erfuhr, konnten nicht ignoriert werden.

Ich merkte, wie sich der Manager immer unwohler fühlte. Auf eine Frage von Güner Balci, ob ich als Gast weiter willkommen sei, antwortete Hikmet Kundakci: „Eigentlich sind Türken sehr gastfreundlich, aber ich glaube, ich kann Sie nicht bedienen.“

Wie geprügelte Hunde

Ich wies darauf hin, dass mit dieser Nachgiebigkeit ein grundsätzliches Problem entstünde. Als wir das Lokal verließen, kam Beifall auf, und unter Beschimpfungen aus der Menge schlichen wir wie die geprügelten Hunde davon. Güner Balci meinte etwas bitter, an der Stelle des Managers hätte sie das durchgestanden und die Polizei geholt. Ich erwiderte, das sei ja gerade das Problem. Unter Druck gehöre die Loyalität dieses erfolgreichen deutsch-türkischen Geschäftsmanns offenbar eher den Krawallmachern der eigenen Volksgruppe als dem deutschen Gast.

Unser nächstes Ziel war das alevitische Gemeindezentrum, dort hatte Güner Balci ein Gespräch mit dem Gemeindevorstand vereinbart. Als wir uns näherten, bemerkten wir eine kleine Menschenansammlung vor der Tür. Sie hatte sich so positioniert, dass der Zugang versperrt war, und es erschollen Rufe wie „Hau ab“. Die Menschenmenge umgab den Sprecher der Gemeinde, der sich unmittelbar vor der Tür aufgestellt hatte.

Dieser verlas eine längere vorbereitete Erklärung, die etwa folgenden Inhalt hatte: Die Aleviten seien eine vom Berliner Senat anerkannte Religionsgemeinschaft, die insbesondere in der Türkei viel Verfolgung habe erdulden müssen. Das Gespräch sei mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter vereinbart worden. Der Gemeinderat habe aber nach längerer Diskussion ein Gespräch mit jemandem wie Thilo Sarrazin abgelehnt. Man spreche sich gegen gesellschaftsspaltende und das Wohl der Gemeinschaft gefährdende Aussagen aus und wolle sich an keiner Diskussion beteiligen, in der das friedliche Zusammenleben nicht im Mittelpunkt stehe.

Sie rufen „Nazis raus“

Ich erwiderte darauf, klar sei jedenfalls, dass der Gemeinderat meine Positionen nicht kenne und schon gar nicht das kritisierte Buch gelesen habe. Dann bestiegen wir, wiederum von Rufen wie „Rassist“ und „Nazis raus“ begleitet, das Auto und fuhren davon. Ganz offenbar war der Gemeinderat unter dem Druck bestimmter Gruppen eingeknickt und hatte entschieden, die ursprüngliche Einladung in den Versuch einer öffentlichen Demütigung zu verwandeln, denn natürlich hätte er eine Absage auch rechtzeitig und diskret überbringen können.

Ich nehme das Günstigste an, nämlich dass sich der Restaurant-Manager und der alevitische Gemeinderat dem Druck von radikaleren Elementen aus der türkischen Gemeinschaft beugten. Selbst unter dieser Annahme habe ich Kreuzberg tief nachdenklich verlassen. Ein verdienter ehemaliger Berliner Senator, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer ein Buch mit unwillkommenen Zahlen und deren Analyse zu schreiben, wird aus einem zentralen Berliner Stadtteil, der nach eigenem Selbstverständnis die Speerspitze der Integration in Deutschland darstellt, förmlich herausgemobbt.

Wehe uns, wenn, wie viele hoffen, Kreuzberger Zustände die Werkstatt des künftigen Deutschland sind.