London. "In Germany, we don’t say ..." – mit kurzen Videos über die Eigenheiten der Deutschen begeistert der junge Brite Liam Carpenter (27) seit einigen Monaten Millionen Zuschauer auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder Youtube. Mal spielt Liam den muffeligen Deutschen, der über das Wetter stöhnt. Man sage in Deutschland eben nicht: "Wow, was für ein wunderschöner Tag", sondern "Ich schwitze wie ein Schwein".
Geht der Bundesbürger an einem imposanten Schloss vorbei, heißt es nicht etwa: "Oh, wie schön". Stattdessen denkt der Deutsche: "Die Stromrechnung möchte ich nicht zahlen."
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Und wenn der deutsche Liam auf einem Konzert ist und der Künstler nicht zur angegeben Uhrzeit auf der Bühne steht, bemängelt er dessen Unpünktlichkeit. Wenn die Nachbarn nach 22 Uhr zu laut feiern, wird schon mal das Ordnungsamt hinzugezogen. Ordnungsliebend ist der Deutsche eben – und bietet dem Briten einigen Stoff vom Vorurteil bis zum sich bewahrheitenden Klischee.
Influencer hat besondere Beziehung zu Deutschland
Aber wie kommt man darauf, hauptberuflich Deutsche zu verunglimpfen? Liam Carpenter ist in der Nähe von London aufgewachsen. Schon im Kindesalter beginnt Liam, für sein Alter schon damals hochgewachsen, mit dem Basketballspielen. Die Leidenschaft für den Sport führt ihn schließlich nach Deutschland, wie er erzählt: "Eigentlich hatte ich den Traum eines jeden Basketballers, mal in den USA zu spielen. In Deutschland wollte ich eigentlich nur kurz bleiben."
Doch dann wurden es sieben Jahre. Zeitweise spielte der Brite für die Crailsheim Merlins sogar in der ersten Basketball-Bundesliga. Nach ein paar Spielen zurück in England und dem Ende der halbprofessionellen Sportlerkarriere schwebte Liam zunächst eine Karriere als Fitnesstrainer vor. Im Frühjahr 2021 beginnt er, eigene Videos aufzunehmen und hochzuladen. Zunächst filmt er Fitnessübungen, die Reichweite jedoch ist überschaubar.
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Erst mit seinen kurzen Clips über die Deutschen findet der junge Brite sein Publikum. Teilweise fließen auch deutsch-britische Gegensätze mit ein. Mittlerweile folgen Liam auf Instagram rund 1,4 Millionen Menschen (liamcarps1), bei TikTok verfolgen sogar 1,9 Millionen Abonnenten regelmäßig seine Videos (liamcarps) und auch bei Youtube (liamcarps) haben ihn mehr als 700.000 Nutzer abonniert.
"Erkennen uns wieder": Wissenschaftler erklärt Erfolg der Videos
"Es ist alles ein bisschen übertrieben. Aber das ist gut für den ‘Comedy-Effekt’", sagt Liam, der auch glaubt, dass seine Selbstironie, die er in den Videos immer wieder zeige, gut ankommt. Darin sieht auch der deutsche Psychologe Hans-Peter Erb einen Grund für den Erfolg der Videos. "Wir erkennen uns auf eine gewisse Weise wieder, bemerken aber, dass es übertrieben ist und können dann auch darüber lachen", so Erb. Der Professor an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität forscht seit Jahrzehnten zu der Frage, wie Menschen Urteile fällen und auch zu vorherrschenden Stereotypen, die es zum Beispiel zum Alter oder zu Geschlechtern, aber auch zu Nationalitäten gibt.
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Fragt man Erb, kann er eine ganze Reihe an stereotypen Eigenschaften und Verhaltensweise aufzählen, die den Deutschen zugeschrieben werden. Hierzulande würde man zum Beispiel "zum Lachen in den Keller gehen" – man habe also keinen Humor. Der Deutsche sei aber fleißig und effizient, er sei pünktlich und gut organisiert sowie bürokratisch und wenig flexibel. Der Deutsche sei darüber hinaus zurückhaltend in Gestik und Mimik, er gehe gerne in Vereine und lege viel Wert auf Sicherheit. Weitere gängige Stereotype würden Deutsche als Sparer, Frühaufsteher und Besserwisser oder Viel-Leser beschreiben. Man trenne zudem zwischen Arbeit und Spaß.
Experte: Vorurteile sind evolutionär bedingt
Vorurteile, also die Bewertung einer bestimmten Gruppe sowie vermeintliches Wissen über diese gibt es im Grunde schon seit Menschengedenken, sagt der Wissenschaftler. "Stereotype fallen uns auch deshalb so schnell ein, weil sie in unserem Gehirn fest verdrahtet sind. Forscher gehen davon aus, dass der Effekt so stark ist, weil unsere Vorfahren schon immer sehr schnell Urteile fällen mussten, zum Beispiel in der Frage Freund oder Feind", so der Professor.
Heute sind auch Eltern dafür Verantwortlich, ob und welche Vorurteile ihre Kinder übernehmen. Denkmuster entstehen aber auch durch eigene Erfahrungen sowie Erzählungen. Erb verweist auf Blondinen- oder Ostfriesenwitze, die mit gängigen Stereotypen spielen. Und auch die Medien hätten Einfluss auf in der Bevölkerung verankerten Einstellungen.
Eine Gesellschaft ohne Vorurteile wäre erstrebenswert, sagt Erb. Allein aus Gründen der Fairness. Um Einstellungen gegenüber einer gewissen Gruppe loszuwerden, helfe am Besten der direkte Kontakt – mit einer Person, zu der man sich selbst auf Augenhöhe befindet. "Es hilft also nichts, den syrischen Botschafter zu treffen, um Vorurteile gegenüber Syrern loszuwerden", sagt Erb.
Vorurteile verringern sich oder verschwinden auch, so Erb, wenn man ein gemeinsames Ziel verfolge. Ein Beispiel dafür sei eine Fußballmannschaft, die einen Titel erringen will, so Erb. Liam Carpenter hatte vor seinem Umzug nach Deutschland nach eigener Aussage keine Vorurteile. Er hätte inzwischen aber auch zahlreiche Gelegenheiten gehabt, sie abzulegen: Carpenter ist seit ein paar Jahren mit einer Deutschen verheiratet, hat selbst den deutschen Pass und lebt in der Nähe von Schwäbisch-Hall in Baden-Württemberg.