In der schönen neuen Welt von Wikipedia herrscht derzeit alles andere als eitel Sonnenschein. Früher, da durfte noch jeder. Wer etwas zu sagen hatte, setzte sich zu Hause an den Computer und erstellte einen Artikel für das Online-Lexikon. Der war sofort für die ganze Welt sichtbar. Heute geht nichts mehr ohne die Administratoren. Rund 300 gibt es, sie haben das Privileg, Artikel zu löschen und andere Autoren zu sperren, wenn diese etwa gegen Regeln verstoßen. Die sind dann sauer.
Das geht soweit, dass der ehemalige Wikipedia-Autor Günter Schuler und Autor des Buches „Wikipedia inside“ von einer „Herrschaft der Administratoren“ spricht. Diese regierten nach „Gutsherrenart“. „Missstände können nicht sanktionsfrei angesprochen werden“, sagt Schuler. Wer in der Community anecke und sich gegen Administratoren auflehne, fliege raus. Wikipedia ist sehr groß geworden. Die Online-Enzyklopädie hat sich innerhalb von zehn Jahren zu mehr als einem Ersatz aller dicken Brockhaus-Bände und der Encyclopedia Britannica entwickelt.
Finanziert durch Spenden, erstellt durch ehrenamtliche Autoren. Wikipedia bietet nach eigenen Angaben aktuell weltweit mehr als 17 Millionen Artikel in mehr als 270 Sprachen und wird monatlich von rund 400 Millionen Menschen weltweit genutzt. Die deutsche Version enthält aktuell knapp 1,2 Millionen Artikel. Der allergrößte Brockhaus bringt es auf gerade einmal ein Viertel. Was so groß ist, will organisiert sein. Und in Organisationen gibt es Gewinner und Verlierer. Meist sind es mehr Verlierer als Gewinner. Bei Wikipedia ist das nicht anders.
Von der Idee, die Enzyklopädie als ein basisdemokratisches und egalitäres Projekt zu betreiben, ist nicht mehr viel übrig. „Bei Wikipedia hat sich im Laufe der Zeit eine Art Oligarchie entwickelt“, sagt der Soziologe Christian Stegbauer, der das Internet-Lexikon zweieinhalb Jahre lang erforscht hat. „Relativ wenige Personen sind engagiert und tragen Verantwortung“, sagt er. Und tatsächlich: Von den rund eine Million angemeldeten Usern schreiben und redigieren gerade einmal 7000. 1000 davon gelten als besonders aktiv. Und rund 300 davon sind eben gleicher als die Gleichen.
Wikipedia ist professioneller und bürokratischer
Die Organisation ist professioneller und auch bürokratischer geworden. Allein im deutschen Verein Wikimedia arbeiten mittlerweile 18 festangestellte Mitarbeiter. Die Ansprüche des Lexikons an die Autoren sind wiederum stetig gestiegen. Die Liste der Relevanzkriterien ist umgerechnet rund 30 DIN-A4-Seiten lang und formuliert Regeln für Hunderassen, Pornostars und Brauereien.
Viele Neulinge blicken da nicht mehr durch – und steigen gleich wieder aus. „Man will auch Leute, die keine Ahnung haben, draußen halten“, sagt Soziologe Stegbauer. Heute müssten die Autoren Experten auf ihren Gebieten sein, sagt er. Stegbauer ist der Meinung, dass es bei Wikipedia nicht immer demokratisch abläuft. Häufig entstehen Konflikte über Inhalte von Artikeln zwischen den Autoren. Können diese nicht einvernehmlich gelöst werden, wird ein Schiedsgericht angerufen. Es entscheidet dann, ob der Artikel gelöscht wird oder in welcher Version er im Netz stehen darf.
Stegbauer untersuchte die verschiedenen Diskussionen und fand heraus, dass die Administratoren in der Regel bevorzugt werden. Sobald ein User mit Administratorrechten an einem Konflikt beteiligt war, entschied das Schiedsgericht in den allermeisten Fällen zugunsten des Administrators. „Umgekehrt ist die Tendenz vorhanden, eher Artikel von ‚normalen’ Usern zu löschen“, so der Soziologe. Autor Schuler plädiert daher für eine Art Betriebsrat, der die Administratoren kontrollieren soll.
Pavel Richter, Geschäftsführer vom Verein Wikimedia Deutschland, widerspricht. Die Administratoren hätten keine herausgehobene Stellung inne. Sie seien viel eher „Hausmeister“, die Wartungsarbeiten erledigten, aufräumten und darauf achteten, dass die Regeln eingehalten werden. Niemand aber sehe sich in einer Chef-Position, so Richter. Soziologe Stegbauer bezeichnet sie dagegen – um im Bild zu bleiben – als „Direktoren“.
Wikpedia beginnt mit "Hello World"
Die Anfänge der Enzyklopädie waren dagegen bescheiden. Mit einem Test-Artikel, der nur aus „Hello World!“ bestand, begann die einmalige Erfolgsgeschichte. Am 15. Januar 2001 stellten die beiden Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und Larry Sanger die Seite online. Ihre Vision: Eine Enzyklopädie zu schaffen, an der jeder mitarbeiten und sein Wissen mit der Welt teilen kann. Ein Jahr zuvor riefen die beiden das Online-Nachschlagewerk Nupedia ins Leben.
Dort war die Auslese streng. Im Prinzip durfte zwar jeder mitmachen. Allerdings mussten Autoren renommierte Experten für ihr Thema sein. Sieben Kontrollen durchlief damals ein Artikel – mehr als bei einem wissenschaftlichen Journal. Im ersten Jahr kamen kaum mehr als 20 Texte zusammen. „Es musste einen Weg geben, wie einfache Nutzer leichter mitmachen können“, sagte Larry Sanger später einmal. Die Wiki-Software war die Lösung: Ein frei verfügbares System, mit dem Nutzer ganz einfach Webseiten anlegen und bearbeiten können.
Wikipedia war von Anfang an beliebt. Und die öffentliche Zuneigung ist bis heute fast ungebrochen. „Das Wissen der Menschheit zu sammeln, und zwar außerhalb der Schranken des Urheberrechts, hat eine gewisse Anziehungskraft“, sagt Forscher Stegbauer. Die Entwicklung der Spendeneinnahmen bestätigt dies. Finanziell steht Wikipedia so gut wie noch nie da. Seit 2007 haben sich die Spenden vervielfacht.
Gingen in jenem Jahr für die deutsche Wikipedia-Version lediglich 270.000 Euro an Spenden ein, stiegen sie im darauffolgenden Jahr auf rund 375.000. 2009 waren es schon 614.000 Euro. Während der Spendenkampagne im vergangenen Jahr – auf der Startseite erschien wie in den Jahren zuvor ein Spendenaufruf – erzielte der eigens gegründete Verein Wikimedia Deutschland in nur 55 Tagen mehr als zwei Millionen Euro – ein Rekord.
Rund 68.700 Spender unterstützten die Enzyklopädie mit durchschnittlich 30 Euro. Weltweit kamen sogar 16 Millionen Dollar (rund zwölf Millionen Euro) zusammen. Die Hälfte der Einnahmen in Deutschland leitet der Wikimedia-Verein an die US-amerikanische Wikimedia Foundation weiter, die Betreiberin von Wikipedia ist. Finanziert wird damit unter anderem der Betrieb der Server und die aufwändige technische Infrastruktur.
Wikimedia-Geschäftsführer Richter freut sich über die große Spendenbereitschaft, verwundern tut sie ihn allerdings nicht. „Die Bedeutung von Wikipedia hat in der Gesellschaft massiv zugenommen“, sagt er. „Das führt dazu, dass auch mehr Menschen bereit sind, zu spenden“. Auch dank der professionelleren Strukturen sei es möglich gewesen, dieses Ergebnis zu erzielen. Ein Online-Tool erkennt die IP-Adresse des Users und leitet die Spenden direkt an den deutschen Wikimedia-Verein weiter und nicht wie früher an die US-amerikanische Wikimedia Foundation.
Seit Neuestem kümmert sich ein Mitarbeiter des Vereins eigens um die Verwaltung der Spenden. Im vergangenen Oktober gründete der Verein gar eine gemeinnützige GmbH. Wikipedia ist erwachsen geworden. Aus dem einstmals revolutionären Online-Projekt ist ein globales Nachschlagewerk mit einer hierarchischen Organisation und festen Strukturen geworden. Bereits im Jahr 2005 stellte Wikipedia-Gründer Jimmy Wales fest: „The main work ist done“. Wikimedia-Geschäftsführer Richter sagt heute: „Die Zukunft der Wikipedia liegt im qualitativen, nicht im quantitativen Wachstum.“