Derivate & Co.

Die gefährlichen Produkte der Finanzbranche

| Lesedauer: 11 Minuten
Frank Stocker und Sebastian Jost

Das Finanzsystem steht am Abgrund, weil die Banken sich mit Verbriefungen und Derivaten verhoben haben. Diese Produkte sind eigentlich sinnvoll und nützlich. Doch sie müssen strengeren Regeln unterworfen werden, um ähnliche Krisen zu verhindern. Morgenpost Online stellt die wichtigsten Finanzprodukte vor.

Es ist eigentlich ein seltsames Wort, das seit einigen Wochen in aller Munde ist: Realwirtschaft. Tagtäglich wird erörtert, inwieweit diese Realwirtschaft von der Banken- und Finanzkrise betroffen sei. Gemeint ist mit dem Begriff der ganze Rest der Wirtschaft, alles, was nichts mit der ins Trudeln geratenen Bankenwelt zu tun hat. Doch wenn all das die Realwirtschaft ist - ist dann die Finanzindustrie eine irreale Wirtschaft?

Fast scheint es so. Zumindest, wenn man genau betrachtet, wie diese Branche in den vergangenen Jahren mit kaum durchschaubaren Produkten eine Blase ungekannten Ausmaßes herangezüchtet hat. Nun ist diese Blase geplatzt und droht die gesamte Wirtschaft - reale und irreale - in den Abgrund zu reißen. Als Folge davon könnten viele dieser neuen Produkte auf lange Sicht tot sein - obwohl manche durchaus nützlich sind. Entscheidend wird aber sein, dass die Finanzwelt aus den Fehlern lernt und einige Veränderungen akzeptiert.

Verbriefungen: Der Markt für Verbriefungen ist jener, von dem die aktuelle Krise ausging. Das Prinzip: Eine Vielzahl von Krediten - meist US-Immobiliendarlehen - wurde zusammengepackt und dann verkauft. Eigentlich eine gute Sache: "Verbriefungen nützen der Volkswirtschaft, weil die Risiken dadurch zu jenen Banken und Investoren wandern, die willens und in der Lage sind, sie zu tragen", sagt Alexander Kempf, Direktor des Zentrums für empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Universität Köln.

In der Praxis wussten die Investoren aber meist nicht, welche Risiken sie dabei trugen. Sie verließen sich auf die Einschätzungen der Ratingagenturen. Und diese gaben den Paketen durchweg Bestnoten. Die Investoren kauften daher eifrig. Das wiederum trieb die Banken zur Vergabe immer weiterer Kredite und lockerte ihren Blick auf Risiken. "Wenn eine Bank weiß, dass sie das Risiko in ein paar Tagen weiterreichen kann, ist die Versuchung groß, es mit der Zahlungsfähigkeit des Hausbauers nicht so genau zu nehmen", sagt Bankenprofessor Dirk Schiereck von der Technischen Universität Darmstadt.

Doch als die Zinsen stiegen, konnten plötzlich viele Hausbauer ihre Kredite nicht mehr tilgen. Nun wurde die Frage wichtig, was genau in den Kreditpaketen steckt - und nun merkten viele, dass diese Konstruktionen so kompliziert waren, dass keiner es genau wusste. Die Folge: Verbriefte Immobilienkredite will kein Investor mehr haben.

Derivate: Doch gehandelt wurden nicht nur die Kreditpakete. Gleichzeitig kamen Papiere auf den Markt, die Wetten auf diese Pakete zum Inhalt haben. Solche abgeleiteten Produkte werden Derivate (von lat. derivare = ableiten) genannt. Dieser Derivate-Markt ist alles andere als tot, er ist quicklebendig. Mit Derivaten lassen sich Entwicklungen überzeichnen, zweifach, dreifach, hundertfach. Man kann auf steigende oder fallende Kurse setzen. Mit kleinem Einsatz kann ein Investor riesige Gewinne machen, oder enorme Verluste. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich belief sich der Wert aller Papiere Ende 2007 auf 600 Billionen Dollar. Das ist zehnmal so viel wie der Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr weltweit erzeugt werden. Für Privatanleger gibt es Derivate in klein - in Form von Optionsscheinen.

"Früher verdienten sich die Menschen ihren Lebensunterhalt mit der Produktion von Gütern und Leistungen, heute - hat man beim Vergleich mit dem Welt-Bruttoinlandsprodukt den Eindruck - mit dem Handel von Derivaten", sagt Eberhardt Unger vom unabhängigen Analysehaus Fairesearch. Sorgen macht ihm vor allem jener Teilbereich mit dem Kürzel CDS.

CDS: Die Abkürzung steht für Credit Default Swaps oder auf Deutsch Kreditausfallversicherungen. Auch diese Produkte sind eigentlich praktisch: Der Verkäufer verspricht dem Käufer eine Zahlung für den Fall, dass ein bestimmtes Unternehmen pleitegeht. So können sich zum Beispiel Investoren absichern, die eine Anleihe dieses Unternehmens besitzen. Der CDS-Verkäufer bekommt dafür eine Prämie.

Doch der CDS-Markt hat sich längst verselbstständigt, völlig von seinem eigentlichen Zweck entfernt. Heute dienen die Papiere überwiegend als Wetteinsätze für Spekulationsgeschäfte zwischen den Banken. "Wir machen mit CDS-Verträgen inzwischen quasi dasselbe, was wir seit Jahrzehnten mit Aktien machen: Wir spekulieren auf steigende oder fallende Kurse", sagt ein Frankfurter Investmentbanker. Anders als Aktien oder Anleihen lassen sich CDS-Verträge grenzenlos vermehren - ohne dass dem irgendwelche realen Werte gegenüberstünden. So schwoll der Markt bis Anfang 2008 auf mehr als 60 Billionen Dollar an. Das dahinter stehende Risiko an tatsächlichen Kreditausfällen wird dagegen nur auf zwei Milliarden Dollar geschätzt. Hinzu kommt, dass dies alles im Verborgenen geschieht - von Bank zu Bank.

Leerverkäufe: Doch es sind nicht nur die Banken, die in den vergangenen Jahren exzessiv gezockt haben. Mindestens genau so toll trieben es Hedgefonds und andere Großinvestoren. Leerverkäufe sind häufig ihr Mittel der Wahl. Dazu leihen sie sich Aktien aus, beispielsweise von einem Fonds oder einer Bank. Dann verkaufen sie die Aktie, in der Hoffnung, dass deren Kurs sinkt. Tritt dies ein, kaufen sie die Aktie billiger zurück und geben sie an den Verleiher zurück. Die Kursdifferenz ist ihr Gewinn.

Diese Spekulation auf sinkende Kurse ist eigentlich nichts Neues. Neu aber ist die Dimension. Im Juli, kurz vor Beginn der Verschärfung der Finanzkrise, waren weltweit Aktien im Wert von 1,4 Billionen Dollar ausgeliehen. Das war ein Drittel mehr als vor Jahresfrist. An der New Yorker Börse waren im Juli fast fünf Prozent der Aktienverkäufe Leerverkäufe - der höchste Stand seit 1931.

Viele Vertreter der Finanzindustrie verteidigen die Leerverkäufe dennoch. Denn die Haltedauer von Leerpositionen ist wesentlich kürzer als die echter Aktien. An Leerverkäufen lässt sich also schneller ablesen, wenn sich der zugrunde liegende Wert verändert. Doch dies gilt nur, so lange Leerverkäufe in einem gesunden Maß zur gesamten Aktienzahl stehen. Seit einigen Jahren dürfen Spekulanten jedoch Aktien sogar leer verkaufen, obwohl sie sie überhaupt nicht besitzen. Das heiß "naked short selling", also nackte Leerverkäufe. Auf diese Weise können mehr Aktien verkauft werden, als es überhaupt gibt.

Genau dies ist am Dienstag bei der Volkswagen-Aktie passiert. Sie gehört zu den am meisten leer verkauften Aktien. Aufgrund der Kreditkrise haben die Banken jetzt jedoch vielen Spekulanten die Kreditlinien gestrichen. Die Folge: Sie müssen ihre Positionen glattstellen und die Aktie kaufen - aber es gibt viel zu wenige. Deshalb schoss der Kurs um über 50 Prozent nach oben, während der Rest der Börse gerade in den Abgrund taumelte.

Zertifikate: Was dem Großanleger die Leerverkäufe, das sind dem Kleinanleger die Zertifikate. Hier hat sich eine riesige Industrie entwickelt. Allein zwischen Ende 2004 und Ende 2007 verdreifachte sich das Volumen in Deutschland. Die Emittenten bringen täglich Hunderte neuer Papiere auf den Markt, mit denen Anleger auf alles nur Erdenkliche spekulieren können - auf ein Fallen vietnamesischer Aktienkurse, auf einen steigenden Schweizer Franken, auf einen Korb verschiedener Rohstoffe. Das ganze gibt es auch mit Korridoren, Schwellen, Discounts, Boni oder Garantien. Wie die einzelnen Papiere funktionieren, verstehen meist nur noch jene, die sie gezimmert haben.

Und dies ist ein unschätzbarer Vorteil für die Bank, die die Zertifikate herausgibt, vielleicht sogar der Grund, warum sie sie herausgibt. Denn wer kaum versteht, wie die Papiere funktionieren, weiß auch nicht, wie hoch die in der Konstruktion versteckten Gebühren sind. Diese sind oft horrend. Hinzu kommt für den Anleger ein Risiko, das er meist völlig außer Acht ließ: Wenn die emittierende Bank pleitegeht, ist das Geld weg. Im Gegensatz zu Fonds sind Zertifikate kein Sondervermögen, sondern lediglich eine Schuldverschreibung der Bank. Und zwar eine nachrangige, die Anleger sind also sogar Gläubiger zweiter Klasse. Das mussten zuletzt all jene Anleger schmerzlich erfahren, die in Lehman-Zertifikate investiert hatten.

Je länger die Finanzkrise dauert, desto mehr entzaubert sich die irreale Welt an den Kapitalmärkten. Doch sie wird nicht mit einem Mal verschwinden. Zu viele brauchen sie, um damit Geld zu verdienen. Und die Produkte haben ja durchaus auch ihren Nutzen. "Verbriefungen komplett zu verbieten, wäre deutlich über das Ziel hinausgeschossen", sagt Bankenprofessor Schiereck. Schließlich könnten die Banken nur noch einen Bruchteil der heutigen Kredite vergeben, wenn sie die Risiken eines Hausbaukredits 30 Jahre lang in voller Höhe in ihrer Bilanz behalten müssten. Die Folge: Darlehen für Privatleute wie Unternehmen würden wohl unbezahlbar.

Deshalb kommt es darauf an, die virtuelle Welt der Finanzmärkte so zu gestalten, dass sie der Wirtschaft mehr nützt als schadet. Die EU will durchsetzen, dass eine Bank künftig bis zu 20 Prozent des Kreditrisikos selbst behalten muss und nur den Rest verbriefen und weiterverkaufen darf. So hat sie ein stärkeres Interesse, auf die Bonität der Schuldner zu achten. Bei CDS ist es die Branche selbst, die die Schwächen ausmerzen will. Bis Ende des Jahres soll es eine zentrale Handelsplattform für die Kreditausfallversicherungen geben. Damit würde der Markt transparenter

Bei den Leerverkäufen gibt es Forderungen, die "nackten" Leerverkäufe zu verbieten, also den Verkauf von Aktien, ohne dass der Verkäufer diese besitzt. Und bei Zertifikaten dürften es die Kunden sein, die künftig genauer hinschauen.

Sicherheit steht jetzt bei allen Anlegern ganz oben. Doch allzu großen Illusionen machen sich die Experten trotz dieser positiven Tendenzen nicht. "In den nächsten paar Jahren werden alle mehr auf das Risiko achten", sagt Kapitalmarktprofessor Kempf. "Aber dann wird es sich wieder abschleifen."