Pflege

Multiple Sklerose: Wie Christine ihren Frank zu Hause pflegt

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Andreas Abel
Frank und Christine Storch in ihrem Haus im Süden Berlins. Sie sind seit 29 Jahren verheiratet.

Frank und Christine Storch in ihrem Haus im Süden Berlins. Sie sind seit 29 Jahren verheiratet.

Foto: Sergej Glanze / Glanze/Berliner Morgenpost

Christine Storch pflegt ihren Mann. Als sie ihn geheiratet hat, wusste sie schon, dass er an Multipler Sklerose erkrankt war.

Christine Storch empfängt den Besucher mit einem strahlenden Lächeln, ihr Mann mit einem lockeren Spruch. Auf die Frage, wie es ihm denn gehe, antwortet er „Schlechten Menschen geht’s immer gut.“ Nein, dies ist kein Haus der Schwermut und der Trauer, dies ist ein Haus der Fröhlichkeit und der Liebe. „Mein Mann klagt nie“, sagt Christine Storch. Dabei würde es ihm wohl niemand verübeln, denn Frank Storch ist schwer krank. Er hat Multiple Sklerose (MS) mit sogenanntem chronisch progredienten Verlauf. Das heißt, sein Gesundheitszustand wird immer schlechter, nie wieder besser. Er kann weder stehen noch laufen, kann nichts mehr greifen und nicht mehr sehen. Er spürt seine Hände und Füße nicht mehr, kann seine Arme nicht heben, muss Speisen und Getränke gereicht bekommen und ist inkontinent. Ihm wurde der höchste Pflegegrad zugesprochen. Sein Bewusstsein indes ist nicht eingeschränkt.

Frank Storch (60) wird gut gepflegt – von seiner Frau in ihrer gemütlichen Doppelhaushälfte im Süden Berlins. Den Nachnamen haben wir übrigens in Absprache mit dem Paar und mit Rücksicht auf ihre spezielle Lebenssituation verändert. Einen ambulanten Pflegedienst nehmen die beiden nicht in Anspruch, die Betreuung wie auch die Verantwortung lastet auf den Schultern von Christine Storch. Unterstützt wird sie dabei von Nachbarn und Freunden. Ohne Netzwerk würde es nicht gehen, jedenfalls nicht so gut.

Er war von Anfang an ehrlich zu ihr

Kennengelernt haben sich die beiden 1984, bei der Arbeit in Berlins öffentlicher Verwaltung. Sie hatte gerade ihre Ausbildung beendet, kam in „sein“ Büro. Sie mochte ihn, er mochte sie. „Und er hat mir von Anfang an ehrlich von seiner Krankheit erzählt. Er hat nichts verheimlicht und mir freigestellt, ob ich wirklich eine Beziehung mit ihm eingehen möchte“, berichtet Christine Storch. Sie wollte. „Ich dachte, wir meistern das zusammen. Ich habe nicht geahnt, dass alles, was die MS an bösen Sachen mit sich trägt, eintrifft.“ Dennoch hadert sie nicht mit ihrem gemeinsamen Leben.

Damals aber war das alles nicht abzusehen. „Mein Mann hatte zwar auch schon Beschwerden, bevor er mich kennenlernte, aber die Auswirkungen der Schübe haben sich immer wieder regeneriert. Als ich ihn kennenlernte, war er ein kräftiger junger Mann.“ 1986 zogen sie zusammen, 1990 wurde geheiratet, ihr Sohn kam sechs Monate vor der Hochzeit zur Welt. Im selben Jahr musste Frank Storch den Dienst quittieren, da war er gerade einmal 32 Jahre alt.

1996 nahm die Krankheit wieder Anlauf

1995 bauten sie ihr Haus. Das ist zwar nicht ebenerdig, „aber wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass wir breitere Türen haben und keine Schwellen im Haus“, erzählt sie. Doch ein Jahr später nahmen bei Frank Storch die Beeinträchtigungen zu. „Die Krankheit nahm wieder Anlauf. Am Anfang war es noch moderat, nach und nach wurde es schlimmer. Es geschah schleichend, daher habe ich mich auch nach und nach in die Pflege eingefunden. Ich wurde davon nicht überrascht, konnte mich immer wieder arrangieren und neue Dinge dazulernen“, sagt Christine Storch. Sie gibt ihrem Mann auch Spritzen und wechselt Verbände. Das hat sie sich von Ärzten abgeguckt.

Die Beamtin hatte zwei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes pausiert, dann bis 1999 gearbeitet und war anschließend sechs Jahre lang beurlaubt. Doch 2006 fing sie wieder an zu arbeiten, vier Tage die Woche, mit halber Stelle. „Weil irgendwann der Moment kommt, da fällt einem die Decke auf den Kopf, da braucht man wieder andere Themen und möchte sich auch mit anderen Menschen austauschen“, erklärt sie. „Wenn ich arbeiten bin, bleibt mein Mann alleine. Es kommt kein Pflegedienst. ich mache das alles selbst. Ich stehe um fünf Uhr früh auf, damit ich meinen Mann waschen und anziehen und mit ihm frühstücken kann.“ Dann versorgt sie ihn mit Inkontinenzartikeln, um 7 Uhr verlässt sie das Haus.

„Mein Mann reißt sich ganz oft zusammen“

Zweimal in der Woche kommt der Physiotherapeut, die Nachbarn gucken öfter mal nach Frank Storch. „Am späten Mittag bin ich wieder zurück. Es ist ein großer Vorteil, dass mein Mann alleine bleiben kann. Zudem hat er einen Notruf der Johanniter. Und wenn irgendetwas sein sollte, kann ich alles stehen und liegen lassen, meine Vorgesetzten wissen Bescheid. Das ist aber seit 2006 erst dreimal vorgekommen, das liegt aber auch daran, dass sich mein Mann ganz oft zusammenreißt und mich nicht stören möchte“, erzählt Christine Storch.

Wenn sie von der Arbeit zurückkommt, kocht sie und setzt ihn den Rollstuhl. Die beiden essen, dann erledigt sie Bürokram, Wäsche, im Sommer Gartenarbeit. Manchmal stehen Arztbesuche an. Das alles ist anstrengend. „Ich komme eigentlich nicht zur Ruhe. Abends bin ich oft so kaputt, dass ich schon bei der Abendschau einschlafe“, sagt sie – und lächelt gleich darauf wieder. „Ich habe meine Arbeit, Sport, Freunde und vor allem meinen Mann. Was will ich mehr?“ Die 57-Jährige treibt regelmäßig Sport, spielt Volleyball im Verein und geht walken – nach 20 Uhr oder am Wochenende. Sie braucht den Ausgleich.

„Wir bekommen gerne Besuch“

Der Freundeskreis sei groß und zuverlässig, freut sie sich. „Manche unserer Freunde haben sich entzogen, als mein Mann krank wurde. Aber es kamen neue Freunde hinzu. Wir bekommen gerne Besuch.“ Ab und zu geht sie abends weg, dann erzählt sie ihm anschließend davon. „So ist er immer dabei.“ Ihr Sohn studiert in Ulm Wirtschaftsphysik, zieht demnächst nach Saarbrücken, um dort zu promovieren. Ein großes Bild von ihm steht im Wohnzimmer. Sie telefonieren oft, ab und an skypen sie.

Warum nimmt sie keinen professionellen Pflegedienst in Anspruch? „Ich habe Pflegedienste erlebt bei Eltern von Freunden und erlebt, wie die Pflegerinnen rein- und wieder rausrauschen. Das geht bei meinem Mann nicht. Ich kann nichts schnell mit ihm machen, dann blockiert sein Körper sofort. Da habe ich mir gesagt, so lange ich es kann, leiste ich es und lasse mich eher dadurch entlasten, dass ich auch mal alleine in den Urlaub fahre.“

Für einen Tag nach Mallorca

Dann geht Frank Storch in eine Kurzzeitpflege. „Wir haben seit zehn Jahren eine Kurzzeitpflege-Einrichtung in Zehlendorf, die meinen Mann sehr gut kennt und die immer, wenn etwas Akutes war, richtig reagiert hat. Damit sind wir sehr zufrieden. Ich weiß, er ist dort gut aufgehoben“, sagt seine Frau. Im Februar war sie für einen Tag auf Mallorca – eine kleine Auszeit. „Ich bin morgens hingeflogen, habe mich in die Sonne gesetzt, bin gelaufen und gewandert. Am späten Abend war ich wieder in Berlin. Das hat gutgetan und Kopf und Seele frei gemacht.“ Um ihren Mann kümmerten sich derweil Freunde. Im vergangenen Jahr war sie zur Kur – vier Wochen Bad Reichenhall. „Das war Gold wert“, strahlt sie. Ihr Mann rede ihr immer gut zu, sich Auszeiten zu nehmen. Er weiß, dass ihr das gut tut und sie neue Kraft tankt.

„Es ist eigentlich ungerecht, dass ich sehr viel weniger Geld für die Pflege meines Mannes bekomme, als es ein professioneller Pflegedienst bekäme. Ich leiste mehr, weil ich auch nachts da bin. Und weil ich ihn oft hebe, habe ich mir schon mehrere Bandscheibenvorfälle zugezogen“, sagt Christine Storch.

Der ärgerliche Kampf um Pflegehilfsmittel

„Was mich ärgert, ist der Kampf um Pflegehilfsmittel. Ich habe gerade um ein bestimmtes Pflegebett gekämpft - und verloren. Nun bezahlen wir es selbst.“ Das Pflegebett kommt ins Wohnzimmer. Lange Jahre konnte Frank Storch mit dem Treppenlift ins obere Stockwerk gelangen und die Nacht im Schlafzimmer verbringen. Das gehe nun nicht mehr, sagt seine Frau, es werde riskant, ihn in den Lift zu setzen.

Der Umgang mit der Pflegekasse sei bisweilen unerfreulich. „Manche Mitarbeiter sind sehr unsensibel und haben offenbar keine Erfahrung in der Pflege. Die Menschen sitzen am Schreibtisch und entscheiden, als ob es ihr eigenes Geld ist. Einmal war ich so verärgert, dass ich geschrieben habe: Sie sollten mal nur für zwei Tage das machen müssen, was ich mache.“

Christine Storchs Alltag ist eine tägliche große Herausforderung. „Aber ich möchte nicht missen, meinen Mann zu Hause zu haben“, sagt sie. „Wir freuen uns über kleine Dinge, über den ersten Schmetterling oder wenn wir ein Glas Wein zusammen trinken können. Ich würde eher meine Arbeit reduzieren oder ganz aufgeben, als meinen Mann in ein Pflegeheim zu geben. Mein Mann ist der Sonnenschein, er ist so ein lieber, geduldiger und reizender Mensch. Frank ist die Liebe meines Lebens, nur deshalb schaffe ich es und schaffen wir das gemeinsam.“

Diese Hilfen stehen Ihnen bei der häuslichen Pflege zu

Wenn ein Angehöriger plötzlich pflegebedürftig ist, stellt das Berufstätige meist vor große Probleme. Es gibt aber auch Hilfen. So besteht die Möglichkeit, sich spontan bis zu zehn Tage von der Arbeit freistellen zu lassen, wenn Zeit für die Organisation einer akut aufgetretenen Pflegesituation benötigt wird. Das Recht auf eine solche Freistellung haben alle Arbeitnehmer unabhängig von der Unternehmensgröße. Darauf weist die Verbraucherzentrale Berlin hin. Die Pflegekasse zahlt für die Zeit der Freistellung Pflegeunterstützungsgeld – 90 Prozent des ausgefallenen Nettogehalts.

Arbeitnehmer, die in einem Betrieb mit mindestens 16 Beschäftigten arbeiten, können zudem bis zu sechs Monate vollständig oder teilweise aus dem Job aussteigen, um einen Angehörigen zu Hause zu pflegen („Pflegezeit“). Wer in einem Unternehmen mit mindestens 26 Beschäftigten tätig ist, kann zudem bis zu zwei Jahre in Teilzeit gehen, um einen Angehörigen zuhause zu pflegen („Familienpflegezeit“). Er muss dann mindestens 15 Stunden in der Woche arbeiten.

Können Pflegebedürftige vorübergehend nicht zu Hause betreut werden, besteht die Möglichkeit, sie vorübergehend stationär in einer Betreuungseinrichtung („Kurzzeitpflege“) unterzubringen, etwa wenn der Pflegende Urlaub macht oder selbst krank wird. Die Pflegekasse übernimmt Kosten für bis zu acht Wochen pro Jahr und zahlt maximal 1612 Euro. Zusätzlich besteht in solchen Fällen oft ein Anspruch auf sogenannte Verhinderungspflege. Dann übernimmt die Pflegekasse die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens 42 Tage und zahlt ebenfalls maximal 1612 Euro pro Jahr. Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege können kombiniert werden.

Nähere Informationen dazu gibt es beispielsweise in den Berliner Pflegestützpunkten, auf den Internetseiten der Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege sowie der Verbraucherzentrale Berlin oder bei der Stiftung Warentest.

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