Berlin. Der ehemalige Stabhochspringer Tim Lobinger ist an Leukämie erkrankt. Einer von mehr als 11.400, die in Deutschland jedes Jahr die Diagnose Blutkrebs erhalten. Damit ist die Krankheit eine relativ seltene, verglichen etwa mit Brust- oder Lungenkrebs. 2,4 Prozent aller Tumorerkrankungen sind laut der Deutschen Krebsgesellschaft eine Leukämie.
Der 44 Jahre alte Ex-Weltklasse-Athlet Lobinger unterzieht sich nun einer Chemotherapie, teilte sein Management mit. Er reagiere bisher positiv auf die äußerst aggressive Behandlung, hieß es. Das stimme ihn und die behandelnden Ärzte vorsichtig optimistisch. Dennoch hänge der Heilungserfolg von vielen Faktoren ab.
Erkrankung des blutbildenden Systems
Was das konkret bedeutet, wissen nur die Ärzte des Sportlers zu sagen. Denn die verschiedenen Leukämien unterscheiden sich hinsichtlich der Ursachen, des Verlaufs, der Behandlungsmethoden und am Ende auch der Prognose stark voneinander.
„Leukämien sind in ihren Erscheinungsformen tatsächlich sehr bunt“, sagt Susanne Weg-Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienstes des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ). „Generell sind Leukämien Erkrankungen des blutbildenden Systems. Die normale Ausreifung der Blutstammzellen im Knochenmark ist gestört“, erklärt Weg-Remers.
Die Hoffnung auf Stammzellen aus dem Labor
Das Blut setzt sich neben dem Blutplasma aus drei Arten Blutkörperchen zusammen: den roten (Erythrozyten), die den Sauerstoff durch den Körper transportieren, den weißen Blutkörperchen (Leukozyten), die zur Immunabwehr gehören, und den Blutplättchen (Thrombozyten), die für die Blutgerinnung zuständig sind.
All diese Blutzellen stammen von den blutbildenden Stammzellen im Knochenmark ab. Bei einer Leukämie ist in der Regel die Reifung der weißen Blutkörperchen gestört. Diese unfertigen Zellen können einerseits ihre Aufgabe nicht wahrnehmen, und „sie haben andererseits die unangenehme Eigenschaft, sich unkontrolliert zu vermehren“, sagt Weg-Remers.
Daher der aus dem Griechischen stammende Name Leukämie: weißes Blut. Werden die unreifen Zellen in den Blutkreislauf entlassen, können sie sich auch in Lymphknoten und inneren Organen festsetzen. Gleichzeitig behindert die unkontrollierte Vermehrung der weißen unfertigen Blutkörperchen die normale Blutbildung im Knochenmarkt. Die Folgen sind lebensbedrohlich.
Reicht die Chemotherapie nicht aus, müssen Stammzellen transplantiert werden
Die Formen der Leukämie unterscheiden sich einerseits darin, von welchem Zelltyp die Entartung ausgeht, sogenannte myeloische oder lymphatische Vorläuferzellen. Andererseits ist es entscheidend, in welchem Stadium des Reifeprozesses die Entartung stattfindet.
Es gilt: Je früher die Zelle entartet, desto schneller breitet sich die Krankheit aus. Es wird also außerdem zwischen einer akuten, sich in wenigen Wochen entwickelnden und einer chronischen Verlaufsform unterschieden.
Behandelt werden Leukämien häufig mit einer Chemotherapie, die die entarteten Zellen zerstören soll, und in manchen Fällen mit zusätzlicher Bestrahlung. „Wenn diese Therapieformen nicht ausreichen, um die Erkrankung wirksam zu behandeln, wird die Transplantation von Stammzellen notwendig“, sagt Susanne Weg-Remers.
Blutstammzellen aus dem Labor sind die große Hoffnung
Der Patient erhält entweder seine eigenen Blutstammzellen oder jene eines Spenders mit möglichst identischen Zelleigenschaften. Läuft es gut, siedeln sich die Blutstammzellen an und produzieren gesunde Blutzellen. Doch die Therapie birgt viele Risiken, etwa das einer Abstoßung. Deshalb suchen Forscher seit rund 20 Jahren Wege, Blutstammzellen im Labor aus Zellen von Patienten herzustellen.
Hoffnung machen nun US-Forscher. Ihnen ist es erstmals gelungen, menschliche Blutstammzellen im Labor zu züchten. In zwei großen Schritten wandelte das Team um George Daley vom Dana-Farber Cancer Institute in Boston (US-Staat Massachusetts) sogenannte pluripotente Stammzellen zu Blutstammzellen um. Ins Knochenmark von Mäusen eingepflanzt, gingen aus diesen Stammzellen dann unterschiedliche Blutzellen hervor.
Aus diesen Zellen können praktisch alle Arten von Zellen entstehen
Ein Experte wertet die Arbeit als Durchbruch in der Stammzellforschung. Dies fördere nicht nur die Forschung etwa nach Arzneien, sondern könne auch zu Therapien gegen Störungen des blutbildenden Systems wie etwa Leukämie führen, sagt Frank Edenhofer von der Universität Innsbruck, der nicht an der Arbeit beteiligt war.
Aus pluripotenten Stammzellen können im Körper praktisch alle Arten von Zellen entstehen. „Unsere Studie deutet darauf hin, dass wir dem Ziel verlockend nahe kommen, Blutstammzellen aus pluripotenten Stammzellen abzuleiten“, schreibt das Team im Fachblatt „Nature“.
Die Blutstammzellen ließen sich auf weitere Tiere transplantieren
Die Wissenschaftler wandelten zunächst menschliche pluripotente Stammzellen mit chemischen Signalen in spezielle embryonale Endothelzellen um. Sie gelten als Vorläufer von Blutstammzellen. Diese hämogenen Endothelzellen reprogrammierte das Team dann mithilfe von sieben Transkriptionsfaktoren, die mit Viren eingebracht wurden, zu Blutstammzellen (HSC).
Zwar waren diese hergestellten Zellen molekular nicht identisch mit natürlichen Blutstammzellen, schreiben die Autoren. Aber dass die Zellen funktionstüchtig sind, zeigten die Wissenschaftler, indem sie die Blutstammzellen ausgewachsenen Mäusen ins Knochenmark einpflanzten.
Daraus entstanden bei den Empfängern alle wichtigen Typen von Blutzellen. Blutstammzellen dieser ersten Empfänger ließen sich dann sogar auf weitere Tiere transplantieren, in denen daraus wiederum alle wichtigen Blutzelltypen entstanden.
Resultate könnten sich auf Menschen übertragen lassen
Gerade diese Wiederherstellung durch Sekundärtransplantation verdeutliche die Qualität der Studie, betont der Innsbrucker Stammzellforscher Edenhofer. Das zeige, dass die Stammzellen bei den ersten und die daraus abgeleiteten dann auch bei den zweiten Empfängern eingewachsen und funktionsfähig seien.
„Diese bahnbrechende Studie zeigt, dass die gewonnenen humanen Blutstammzellen in der Maus die Eigenschaften natürlicher Blutstammzellen haben und über viele Monate erhalten können.“ Es spreche vieles dafür, dass sich das Resultat auf den Menschen übertragen lasse.
Krankheiten wie Leukämie in der Petrischale nachstellen
„Trotz der Aufregung, die diese beiden Arbeiten auslösen werden, gibt es einige Limitationen“, schreiben Carolina Guibentif und Berthold Göttgens von der britischen Universität Cambridge in einem „Nature“-Kommentar. So müsse man prüfen, ob von den Blutstammzellen ein erhöhtes Krebsrisiko ausgehe. Dennoch seien die Arbeiten ein Meilenstein.
Der Innsbrucker Experte Edenhofer betont neben der Bedeutung für Therapien auch den Wert für die Forschung. Bislang sei der Zugang zu patienteneigenen Blutstammzellen schwierig gewesen, nun könne man Krankheiten wie Leukämien in der Petrischale nachstellen und systematisch analysieren. „Diese Arbeit eröffnet viele neue Wege, die bisher verschlossen waren.“