Morgenpost Online : Wie beeinflussen Impfstoffe das Immunsystem und was unterscheidet Tot- von Lebend-Impfstoffen?
Michael Bröker : Impfstoffe sind biologische Arzneimittel, die man auf zweierlei Weise herstellen kann: Man züchtet Viren oder Bakterien in großer Menge und tötet sie ab. Die so inaktivierten Erreger werden dann als Tot-Impfstoff verabreicht. Für Lebend-Impfstoffe werden die Erreger in der Zucht so verändert, dass sie den Menschen nicht mehr krank machen können, aber sie vermehren sich noch. In beiden Fällen aktivieren die verabreichten Impfstoffe das Immunsystem, sodass es Antikörper bildet. Diese erkennen im Fall einer Infektion den eindringenden Fremdorganismus und fangen ihn ab.
Morgenpost Online : Was versteht man unter passiver und aktiver Immunisierung?
Bröker : Bei der passiven Impfung verabreicht man direkt Antikörper (Serum). Man gewinnt sie aus anderen Menschen oder Tieren, die bereits Antikörper gebildet haben. Die passive Impfung ist sinnvoll, wenn die Zeit zu kurz ist, bis ein aktiver Impfstoff wirken kann. Der Nachteil ist allerdings, dass die Antikörper – das sind Proteine – abgebaut werden und der Impfschutz daher nicht lange anhält. Aktive Impfungen schützen viel länger.
Morgenpost Online : Gibt es offizielle Impfempfehlungen in Deutschland, und welche Impfungen werden von den Krankenkassen bezahlt?
Wolfram Singendonk : Am Robert-Koch-Institut (RKI) ist die Ständige Impfkommission (Stiko) angesiedelt, die einmal im Jahr Impfempfehlungen im Epidemiologischen Bulletin publiziert. Sie besteht aus 16 bis 18 Experten (Mikrobiologen, Virologen, Mediziner, Methodiker) und wird alle drei Jahre vom Bundesministerium für Gesundheit berufen. Vor Veröffentlichung der Empfehlungen gehen diese zur Stellungnahme an die Länder. Im Fall der Annahme werden sie öffentliche Empfehlungen der Länder. Das bedeutet auch, dass der Staat Entschädigung leistet, falls es zu einem der sehr seltenen Impfschäden kommt. Seit April 2007 werden die Stiko-Empfehlungen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss geprüft. Bei positivem Votum gelten sie als Pflichtleistungen der Gesetzlichen Krankenkassen.
Morgenpost Online : Gibt es bei den Empfehlungen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen?
Singendonk : Ja, die Empfehlungen kann man sich auf den Internetseiten des RKI ansehen. Eine Tabelle enthält den empfohlenen Impfkalender für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Eine zweite Tabelle empfiehlt Impfungen nach medizinischer Indikation, für bestimmte Berufsgruppen, Freizeitaktivitäten, Menschen ab einem bestimmten Alter oder für Reisen.
Morgenpost Online : Welche Impfungen sind für Senioren zu empfehlen?
Sebastian Dieckmann : Besonders wichtig werden für Senioren ab 60 die Pneumokokken- und die Grippeimpfung. Pneumokokken können zu schweren Lungenentzündungen mit tödlichem Verlauf führen. Und auch die Grippe kann bei älteren Menschen besonders schwer verlaufen. Sie sollten wissen, dass sich die Grippe-Impfstoffe unterscheiden. Manchen Impfstoffen werden Hilfsstoffe zugesetzt, die die Wirksamkeit erhöhen. Besonders Senioren sollten ihren Arzt danach fragen.
Morgenpost Online : Menschen welcher Berufsgruppen sollten sich speziell impfen lassen?
Singendonk : Kindererzieherinnen, Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte. Jeder, der im Gesundheitsdienst arbeitet, muss einen Schutz vor den klassischen Kinderkrankheiten nachweisen, etwa Masern, Mumps, Röteln, Keuchhusten. Außerdem sollten sich Menschen durch Impfung schützen, die in Laboren mit Bakterien oder Viren arbeiten.
Morgenpost Online : Wenn Impfen so sinnvoll ist, warum gibt es keine Impfpflicht?
Miriam Wiese-Posselt : Entscheidend für die Inanspruchnahme von Impfungen ist nicht ein verpflichtender Charakter, sondern die Akzeptanz und eine effiziente Impforganisation.
Morgenpost Online : Wie groß ist der Anteil der vollständig geimpften Kinder bei Schulbeginn in Deutschland?
Singendonk : In großen Teilen der Bundesrepublik haben wir für alle Erkrankungen Durchimpfungsraten von 90 bis 98 Prozent. Zu niedrige Raten haben wir immer noch bei der Masern-, Mumps- und Röteln-Impfung. Hier brauchen wir 95 Prozent, damit es nicht zu plötzlich ansteigenden Fällen kommt, wie wir es gerade in Hamburg mit den Masern hatten. Ganz schlechte Raten haben wir bei Jugendlichen. Gegen Tetanus und Diphtherie sind nur circa 40 Prozent der Jugendlichen geimpft. Noch schlechter sieht es bei den Erwachsenen aus.
Morgenpost Online : Welche Nebenwirkungen kann es bei Impfungen geben?
Bröker : Wie jedes Medikament haben auch Impfungen Nebenwirkungen. Sie sind aber meistens milde und dauern nur kurze Zeit an. Relativ häufig treten Verhärtungen, Rötungen oder leichter Schmerz an der Injektionsstelle auf. Fieber kann auch vorkommen. Jedoch liegt in Deutschland die Fieberrate bei Kinderimpfstoffen unter fünf Prozent – gerechnet über alle zugelassenen Impfstoffe. Dennoch gibt es in ganz seltenen Fällen auch Nebenwirkungen, die über das normale Maß hinausgehen, zum Beispiel allergische Reaktionen. Sie treten in einer Häufigkeit von eins bis drei pro drei Millionen Impfungen auf.
Morgenpost Online : Ist man nach einer durchgestandenen Diphtherie- oder Masern-Erkrankung in der Kindheit ein Leben lang geschützt?
Wiese-Posselt : Bei Masern, Röteln, Windpocken und Mumps ist das in der Regel so. Der Diphtherie-Schutz hält dagegen nicht lebenslang an. Auch gegen Tetanus oder Keuchhusten benötigt man etwa alle zehn Jahre eine Auffrischung.
Morgenpost Online : Sind die Risiken bei Kombinationsimpfungen höher als bei Monoimpfungen?
Bröker : Nein. Kombinationsimpfstoffe haben Vorteile gegenüber Impfstoffen mit nur einer Komponente. Der Grund ist, dass das Risiko bei jeder Einzelimpfung neu entsteht und sich daher addiert. Außerdem ist es mit Kombi-Wirkstoffen leichter, den Zeitplan beim Impfen einzuhalten. Kinder sind oft krank, und wenn sie Fieber haben, soll man nicht impfen. Daher kann man schneller in Verzug kommen, wenn man viele Einzelimpfungen planen muss.
Morgenpost Online : Wie wichtig ist heute die Polio-Impfung, und welcher Unterschied besteht zwischen Schluckimpfung und Spritze?
Dieckmann : Das Virus ist noch in vier Ländern in der Bevölkerung vorhanden, in Nigeria, Indien, Pakistan und Afghanistan. Vor einer Reise in eines dieser Länder sollte man die Polio-Impfung auffrischen. Die Krankenkassen zahlen dies. Die generelle Impfempfehlung wird beibehalten, weil das Virus nach wie vor verbreitet werden kann. Allerdings wurde in Deutschland die Schluckimpfung vom Markt genommen – in seltenen Fällen kam eine schlaffe Lähmung als Nebenwirkung vor, die lebenslang anhalten konnte. Stattdessen benutzen wir heute einen Impfstoff, der per Spritze verabreicht wird.
Morgenpost Online : Wie wichtig ist eine Keuchhusten-Impfung für Erwachsene, die mit Kindern arbeiten?
Singendonk : Besonders gefährdet sind die ganz jungen Säuglinge. Sie können Atemlähmungen bekommen, was früher oft zum Tod führte. Um Säuglinge zu schützen, empfiehlt die Stiko, dass Eltern sowie alle Betreuungspersonen gegen Keuchhusten geimpft sein sollten.
Morgenpost Online : In welchen Fällen muss bei Hepatitis B nachgeimpft werden?
Wiese-Posselt : Die Stiko empfiehlt die Impfung gegen Hepatitis B bei Kindern generell, bei Erwachsenen, bei Reisen oder wenn man im Gesundheitswesen arbeitet. Hier greifen auch die Arbeitsschutzrichtlinien. Der Arbeitgeber muss die Impfung anbieten. Wenn sich Antikörper gebildet haben, besteht ein nahezu lebenslanger Schutz. Die Auffrischungen alle zehn Jahre sind vor allem für Personen gedacht, die immer wieder stark exponiert sind.
Morgenpost Online : Wie sinnvoll ist eine Impfung gegen Pneumokokken, und in welchen Abständen ist sie notwendig?
Singendonk : Pneumokokken sind Bakterien, die besonders bei Säuglingen und Kleinkindern schwerwiegende Infektionen auslösen können. Gefürchtet sind vor allem Hirnhautentzündungen. Säuglinge sollen deshalb geimpft werden. Empfohlen wird dies auch für Senioren über 60 und Menschen, die chronisch an Asthma leiden oder bronchiale Erkrankungen infolge eines Herzfehlers oder eines Nierenschadens haben.
Morgenpost Online : Ist das Risiko von Nebenwirkungen höher, wenn man sich am gleichen Tag gegen Grippe und Pneumokokken impfen lässt?
Dieckmann : Nein. Man kann grundsätzlich alle Impfungen am selben Tag miteinander kombinieren.
Morgenpost Online : Gibt es einen Grippeimpfstoff für Menschen mit einer Hühnereiweiß-Allergie?
Bröker : Es gibt gute Nachrichten von der Impfstoffentwicklung. Bisher wurden alle Influenza-Viren für Grippeimpfstoffe in Hühnereiern gezüchtet. Wahrscheinlich wird es zum Ende des Jahres in Deutschland einen neuen Impfstoff geben, dessen Viren in Zellkulturen produziert werden statt in Hühnereiern. Diesen neuen Impfstoff könnten Allergiker verwenden.
Morgenpost Online : Wie lange im Voraus sollte man sich vor einer Reise impfen lassen?
Dieckmann : Es kommt darauf an, was man als Grundschutz schon hat, denn dann handelt es sich in der Regel nur um Auffrischungen. Wer aber noch nie gegen Hepatitis A und B geimpft wurde, ist nach der ersten Kombinationsimpfung A+B noch nicht geschützt. Man braucht vier Wochen bis zur zweiten Impfung. Erst danach ist der Impfschutz vorhanden. Diesen sollte man dann nach sechs Monaten auffrischen, damit er zehn Jahre hält.
Morgenpost Online : Wo kann man sich über Reise-Impfungen informieren?
Dieckmann : Im Internet, zum Beispiel auf den Seiten des Hamburger Bernhard-Nocht-Instituts oder auf der Seite Fit for travel. Die wichtigste Reise-Impfung ist die gegen Hepatitis A. Schon wenn man nach Italien fährt, sollte man sich davor schützen. Das Virus wird an den Küsten häufig durch Muschelessen übertragen.
Morgenpost Online : Gibt es Regionen, in denen man sich gegen Tollwut schützen sollte?
Dieckmann: Ja, zum Beispiel, wenn man für längere Zeit nach Indien reist.
Morgenpost Online : Braucht man eine Impfung gegen FSME, wenn man nach Süddeutschland reist?
Bröker : FSME entsteht durch eine Virusinfektion und kann zu Hirnschädigungen führen. Das Virus wird durch Zecken übertragen. Vor allem Zecken in Süddeutschland, Italien, Österreich, Süd- und Osteuropa bis hin nach Russland und China. In Brandenburg, Sachsen und Norddeutschland ist das Risiko gering. Ich würde eine Impfung empfehlen, auch wenn man nur kurz in den Schwarzwald fährt.
Moderation: Norbert Lossau