Erkrankungen wie Demenz oder Schlaganfälle nehmen zu. Durch die Kosten droht dem Gesundheitssystem der Kollaps – neue Konzepte dringend gesucht.
Es gibt immer mehr Senioren – und immer weniger Babys in Deutschland. Der demografische Wandel ist ein altbekanntes Dilemma, vor allem für die Haushaltsplanung. Dass diese Entwicklung nicht nur ein Problem für die Rentenkassen darstellt, zeigen Berechnungen in der neusten Ausgabe des Bundesgesundheitsblattes: Epidemiologen des Instituts für Krebsepidemiologie in Lübeck und der Gesundheits-System-Forschung in Kiel haben die voraussichtlichen Häufigkeiten bedeutender chronischer Erkrankungen für das Jahr 2050 ermittelt.
Die Ergebnisse verdeutlichen, wie dringend politisch und wirtschaftlich umgedacht werden muss. „Demografischer Wandel ist zwar schon lange ein Thema, allerdings hat zuvor niemand die gesundheitspolitischen Konsequenzen so deutlich benannt.“, sagt Ron Pritzkuleit des Krebsregisters in Kiel. Etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung sind derzeit älter als 80 Jahre. In 40 Jahren wird dieser Anteil um zehn Prozent steigen, das entspricht in etwa zehn Millionen Deutschen. Da das Auftreten vieler chronischer Erkrankungen direkt mit dem Alter korreliert, berechneten die Forscher den zu erwartenden Zuwachs an Bluthochdruck-, Diabetes- und Demenz-Patienten.
Aufgrund einer besonders starken Altersabhängigkeit ergeben sich für die Demenz die dramatischsten Ergebnisse: Bereits 2050 wird sich die Anzahl der über 60-Jährigen mit mittlerer bis schwerer Altersdemenz verdoppelt haben. Das chronisch fortschreitende Defizit an kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten belastet nicht nur Patient und Angehörige, sondern im erheblichen Maß auch die Krankenkassen.
Mit 5,6 Milliarden Euro jährlich gehört die Demenz bereits jetzt zu den teuersten Krankheitsgruppen im Alter überhaupt. Die hohen Kosten ergeben sich hauptsächlich aus stationärer und teilstationärer Pflege, denn die Therapieoptionen sind nach wie vor sehr begrenzt. Medikamente wie die so genannten Acetylcholinesterasehemmer zeigen zwar eine gut belegte Wirksamkeit, können den drohenden Verlust an Selbstständigkeit aber nur hinauszögern und nicht verhindern.
Der errechnete Zuwachs an Bluthochdruckpatienten wirkt demgegenüber zunächst recht harmlos: Die Epidemiologen gehen von etwa zwei Prozent mehr Patienten innerhalb der nächsten 40 Jahre aus. Dennoch ist die volkswirtschaftliche Bedeutung bei derzeit knapp 35 Millionen betroffenen Deutschen enorm. Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegen mit rund 35 Milliarden Euro direkten Krankheitskosten pro Jahr bereits jetzt den Spitzenplatz. Hinzu kommen schwer berechenbare indirekte Krankheitskosten, die aus Arbeitsunfähigkeit und vorzeitigem Tod resultieren.
Besonders teuer sind häufige Folgeerkrankungen wie Schlaganfall und Herzinfarkt, die aus einer unzureichenden Therapie der erhöhten Werte resultieren. Im Gegensatz zur Demenz gibt es hier allerdings sehr gute Therapieoptionen. „Da Bluthochdruck oft auf einem ungesunden Lebensstil beruht, sind Gewichtsnormalisierung, gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport geeignete und vor allem preiswerte Maßnahmen, den Blutdruck zu senken“, sagt Epidemiologe Michael Thamm vom Robert-Koch-Institut in Berlin. „Allerdings nehmen die meisten Patienten lieber Medikamente, als ihr Verhalten langfristig zu verändern.“
Um Herzinfarkt und Schlaganfall vorzubeugen muss der Bluthochdruck allerdings zuvor diagnostiziert werden. Die meisten ahnen nicht, dass in ihrem Körper bereits eine tödliche Zeitbombe tickt, denn die Symptome sind sehr unspezifisch: Schwindel, Kopfschmerzen oder Nasenbluten können in unterschiedlichen Schweregraden auftreten. Nicht selten sich die Betroffenen auch gänzlich beschwerdefrei. Daher wird die Diagnose oft erst dann gestellt, wenn bereits Langzeitschäden eingetreten sind. Mittels regelmäßiger Gesundheitsuntersuchungen wie dem „Check-Up 35“ könnte dieser Gefahr vorgebeugt werden.
Ein weiterer wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist der Diabetes Mellitus. Ein Blutzuckerspiegel, der seit Jahren erhöht ist, schädigt die Innenwand kleiner und großer Blutgefäße des Körpers. Deswegen leiden Diabetiker nicht nur häufiger an Herzinfarkt und Schlaganfall, sondern auch an anderen schwerwiegenden Folgen wie Nierenversagen, Nerven- und Netzhautschäden.
Die Wissenschaftler erwarten, dass es in 40 Jahren gut zwanzig Prozent mehr Diabetiker geben wird. Bei derzeit rund fünf Millionen deutschen Diabetikern und mehr als fünf Milliarden direkten Krankheitskosten wäre diese Entwicklung kaum weniger bedeutsam als der Anstieg von Demenz- und Bluthochdruckpatienten. Zur Vorbeugung und Behandlung des Diabetes empfiehlt Epidemiologe Thamm ähnliche Maßnahmen wie beim Bluthochdruck: „Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck haben viele gemeinsame Risikofaktoren. Eine Änderung des Lebensstils erzielt bei beiden Krankheiten die beste Wirkung.“
Die Unterstützung eines gesunden Lebenswandels ist nur eine von vielen Maßnahmen, die dringend getroffen werden müssten. Bereits 2006 summierten sich die Krankheitskosten auf insgesamt 236 Milliarden Euro. Davon entfielen 111 Milliarden Euro – also knapp die Hälfte – auf Patienten älter als 65 Jahre.
Die Berechnungen lassen nur erahnen, wie viel Mehrausgaben nun für die nächsten Jahre drohen. „Bald kommen die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970 in ein kritisches, besonders krankheitsanfälliges Alter. Dafür müssen gesundheitspolitische Vorkehrungen getroffen werden“, sagt Pritzkuleit.