Hannover –

Schnupfen oder Krebs?

| Lesedauer: 6 Minuten
Claudia Liebram

Das Internet liefert für alle Symptome eine Diagnose. Wer die ohne Weiteres glaubt, riskiert sein Leben

Hannover.  Es ist ein Traum: Der Arzt ist sofort verfügbar, die Untersuchung dauert nur wenige Minuten, eine Diagnose gibt es garantiert. Und dabei ist es egal, ob es tief in der Nacht ist oder am Wochenende. Gesundheitsportale bieten seit vielen Jahren sogenannte Symptom-Checker an. Die Programme nehmen die Beschwerden der Nutzer auf, fragen manchmal noch ein paar Fakten ab und erklären dann, an welcher Krankheit der Ratsuchende leiden könnte. Könnte. Wie verlässlich ist diese Information?

Dutzende Onlineportale versprechen Gesundheits-Surfern eine schnelle Diagnose. Doch wer sich auf diese Auskunft verlässt, kann sogar sein Leben riskieren. Eine internationale Studie hat die Qualität von 23 Online-Symptom-Checkern analysiert. Das Ergebnis ist alarmierend. Nur jede dritte Diagnose ist richtig. Und manchmal wird sogar eine dringend erforderliche Notaufnahme nicht empfohlen. Dabei ist das Vertrauen in Gesundheitsinformationen im Internet und von Apps groß: Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov glaubt hierzulande jeder Sechste, Gesundheits-Apps könnten den Arztbesuch ersetzen. Bei kleineren Krankheiten würde sich jeder Dritte vom Arzt auch übers Netz beraten lassen.

Krankheiten zur Auswahl

„Gerade bei der Diskussion um zu lange Wartezeiten in Arztpraxen ist das Potenzial von Gesundheits-Apps, die den Kontakt zu einem Arzt anbieten, groß“, sagt Holger Geißler von YouGov. NetDoktor, apotheken.de, Onmeda, Apotheken-Umschau, was-fehlt-mir.net oder enpevita sind die bekanntesten deutschsprachigen Gesund- heitsportale, die Symptom-Checker anbieten. Sie bieten auch Smartphone- und Tablet-Apps an.

Im Selbstversuch wollte die Autorin von allen Checkern wissen, ob sie ihre simulierte Arthrose erkennen. Bei enpevita beispielsweise konnten mehrere Symptome ausgewählt werden – unter anderem „Langeweile“. Wählte die Autorin bei „Was fehlt mir“ Knieschmerzen und eine gerötete Haut aus, wurden ihr neben einigen anderen möglichen Diagnosen ein Innenbandriss und Heller Hautkrebs präsentiert – die in der Kombination der Symptome näherliegende Arthrose aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit.

Mediziner schwanken bei Symptom-Checkern und Co. zwischen Skepsis und Gelassenheit: „Grundsätzlich finde ich Angebote gut, die die Menschen dabei unterstützen, sich mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen“, sagt Urs-Vito Albrecht vom Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik in Hannover. „Sie dürfen allerdings die Nutzer nicht verunsichern oder in falscher Sicherheit wiegen.“ Andererseits wünscht er sich, dass öfter auch auf Schwächen aufmerksam gemacht würde: „Die Anbieter sollten transparent darstellen, wozu der Dienst gedacht ist, und vor allem, was er nicht leisten kann.“ Dann könne der Nutzer selbst entscheiden, wie er mit den Informationen umgeht.

Albrechts Kritik: „Zurzeit berücksichtigen die Systeme nicht ausreichend die Vielfalt der menschlichen Kommunikation.“ Die knappe wie abstrakte Befragung, meist ohne Struktur und Prüfung auf Sinnhaftigkeit der Antworten, müsse überdacht werden. Sein Wunsch-Checker: ein menschenzentriertes System, das nicht nur biophysiologische Aspekte, wie Seh- und Hörfähigkeit, Tastsinn, Motorik des Gesunden und Kranken, berücksichtigt, sondern auch psychologische – wie seine Kommunikationsfähigkeiten, Bildung, Ängste und Wünsche.

Bis die entwickelt sind, empfiehlt er, dass sich die Nutzer von Checkern und anderen Gesundheitsangeboten im Netz grundsätzlich kritisch mit den Inhalten auseinandersetzen, ihren Menschenverstand bemühen und hinterfragen: Verstehe ich, was da steht? Betrifft mich das? Kann das stimmen, was da steht? Ist die Quelle vertrauenswürdig? Finde ich in unterschiedlichen Quellen dieselben Ergebnisse? Wer sich bei der Suche nach einer guten Gesundheits-App eher auf die Tipps von Experten verlassen möchte, findet bei der Initiative Präventionspartner eine entsprechende Checkliste. Ursula Kramer und ihre Mitstreiter haben mehr als 300 Gesundheits-Apps auf Kriterien wie Transparenz, Datenschutz oder Finanzierungsquellen getestet. Dazu haben US-Forscher um Hannah L. Semigran von der Harvard Medical School in Boston 23 Symptom-Checker in den USA, Großbritannien, Polen und den Niederlanden geprüft.

Sie wählten 45 Krankheiten aus, die von den elektronischen Hilfsärzten erkannt werden sollten. Bei 15 dieser Erkrankungen hätte es dringend einer Notaufnahme im nächstgelegenen Krankenhaus bedurft, 15 weitere hätten zeitnah einen Arzt aufsuchen sollen. Die restlichen 15 Fallbeispiele erforderten keinen Arztbesuch. Von den Forschern wurden 770 Diagnosen und 532 Empfehlungen ausgewertet.

Direkter Kontakt bringt mehr

Doch nur jede dritte Diagnose war richtig. In jedem zweiten Fall stand die richtige Diagnose unter den ersten drei Vorschlägen. Einige Online-Tools fragten nicht mal nach Alter oder Geschlecht der Ratsuchenden. Verblüffenderweise waren die Ergebnisse dieser Portale nicht schlechter.

Echte Ärzte liegen der Schätzung von Forschern zufolge in 85 bis 90 Prozent der Fälle richtig. Und so ist das Beste an den Online-Symptom-Checkern, dass sie in aller Regel nach Bekanntgabe ihrer Diagnosen noch den Tipp geben: „Suchen Sie einen Arzt auf.“ Doch die Kehrseite ist, dass in zwei von drei Fällen das Platznehmen im Wartezimmer nicht nötig ist.

Wo bleibt die Empathie? Der Rat zum Arztbesuch ist für Urs-Vito Albrecht ein Schutz vor Haftung. Er bezeichnet ihn aber auch als „ehrlich“. „Kommunikation ist komplex, insbesondere bei Gesundheitsthemen, bei denen es auf die Empathie und Fragekunst des Arztes ankommt“, sagt Albrecht. Patienten erwähnten manches Relevante im Gespräch mit dem Arzt nicht, weil ihnen ein möglicher Zusammenhang mit der Gesundheitsbeschwerde gar nicht in den Sinn komme. Doch Mimik, Gestik und Artikulation könnten einem „richtigen“ Arzt wichtige Anhaltspunkte geben, wo die Ursache des Wehwehchens liegt.

Dass die Diagnosen in der Studie nicht immer korrekt waren, ist nicht das Kernproblem. „Zunächst ist es unerheblich, ob der Betroffene Fleckfieber hat oder Meningitis“, schreiben die US-Forscher in ihrer Studie. Dramatisch ist jedoch, dass nur 80 Prozent der Tests Notfälle als solche erkannten. Gleichwohl sind die Forscher überzeugt: „Die Verwendung von Symptom-Checkern wird steigen.“ Sie betonen, dass Gesundheitsportale, die sich auf ganz bestimmte Bereiche wie Orthopädie oder HNO-Heilkunde spezialisiert haben, bei den Diagnosen treffsicherer sind. Und das dürfte bei deutschsprachigen Angeboten nicht anders sein.