Sexualität

Schon Kinder werden durch harte Pornografie geprägt

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Ein, zwei Klicks – und schon sind Kinder auf Pornoseiten: Ein Gespräch mit dem Sexualwissenschaftler Klaus Beier über die Folgen.

Morgenpost Online: Klavierunterricht, Tennisverein, Hausaufgaben – Erziehungsexperten behaupten immer wieder, Kinder und Jugendliche wären in unserer Gesellschaft eher übermäßig betreut. Wie viele Kinder haben da überhaupt noch Gelegenheit, pornografische Seiten im Netz zu sehen?

Klaus Beier: Es sind sehr viele. 30 Prozent der Acht- bis 13-Jährigen haben sich pornografische Filme im Internet bereits angesehen. Bis zum 18. Lebensjahr sind dann die meisten längst in Kontakt gekommen mit den Bild- und Filmmaterialien, wie sie auf New Porn oder Youporn zu Tausenden präsentiert werden. Und meine Prognose ist, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter den Konsumenten steigt, weil die Technologien immer mehr perfektioniert werden, zum Beispiel durch den Versand von Filmen per Handy.

Morgenpost Online: Für die Filme im Internet muss man volljährig sein...

Beier: ...ja, aber ein Klick auf den Knopf „Ich bin 18“ reicht, um freien Zugang zu der breiten Palette an Filmen zu bekommen. Das kann auch ein Zehnjähriger tun. Eine Kontrolle im Netz gibt es nicht.

Morgenpost Online: Haben Jugendliche sich nicht immer schon heimlich pornografische Bilder angeschaut?

Beier: Das stimmt. Aber die Bilder standen noch nie in einem solchen Umfang zur Verfügung wie heute. Früher sahen Jungen mal eine nackte Brust. Aber dass Kinder und Jugendliche Paare bei sexuellen Handlungen beobachtet haben, war schon die große Ausnahme. Sexualität war in der Kulturgeschichte bisher immer ein Erlebensbereich, der gerade nicht durch Anschauen gelernt wurde. Erfahrungen wurden gemacht durch konkrete Erlebnisse mit dem eigenen Körper und im langsam herantastenden Kontakt mit begehrten Partnern. Learning by doing. Diese Reihenfolge hat sich jetzt umgekehrt: Erst sehen, dann machen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der kulturhistorisch noch gar nicht richtig erfasst ist. Zumal in den verfügbaren pornographischen Materialien annähernd ausschließlich ein realitätsfernes Bild von Sexualität gezeichnet wird, in denen die Frauen zu Objekten sexueller Interaktion werden, die begierig jeder nächsten Penetration entgegensehen und möglichst viel Sperma schlucken wollen – am besten von mehreren Männern gleichzeitig. Das ist nun nicht gerade das Kernmerkmal von sexueller Beziehungszufriedenheit, die man den Heranwachsenden perspektivisch ja wünschen würde. Darüber hinaus gibt es leicht zugänglich auch eine Vielzahl von sexuell abweichenden, teilweise strafbewehrten Bildinhalten, etwa Darstellungen von Sex mit Tieren, dem Zufügen von Verletzungen und Schmerzen oder sogar Missbrauchsabbildungen, in die Kinder und Jugendliche involviert sind.

Morgenpost Online: Was passiert bei Jugendlichen, wenn sie so etwas sehen?

Beier: Wenn man als Kind Erwachsene beobachtet, ist das wie Lernen am Modell. Die neurobiologische Grundlage dafür sind die so genannten Spiegelneuronen im Gehirn. Sie bewirken, dass allein das Betrachten eines Vorgangs im Gehirn des Betrachters die gleichen Neuronen aktiviert, als hätte er die Handlung selbst durchgeführt. Wir müssen davon ausgehen, dass sich über die Spiegelneuronen auch sexuelle Handlungen im Gehirn abbilden und damit also das, was in den pornografischen Filmen von den Kindern und Jugendlichen gesehen wird.

Morgenpost Online: Welche Folgen hat das für die Vorstellung von der eigenen Persönlichkeit?

Beier: Es wäre naiv zu glauben, dass sich diese Darstellungen nicht auf das sexuelle Selbstbild der Jugendlichen auswirken. In der Pubertät, wenn die Sexualhormone einschießen, sind Jugendliche besonders empfänglich für sexuelle Signale. Dann bilden sich bei den Mädchen und Jungen, deren Gehirne noch in der Entwicklung sind, die sexuellen Präferenzstrukturen aus. Das sind irreversible Vorgänge und bis zum Beleg des Gegenteils ist davon auszugehen, dass Bildinhalte, die im Internet gesehen und mit sexueller Erregung verknüpft werden, sich in dieser sensiblen Phase in die Präferenzstruktur einschleusen könnten.

Morgenpost Online: Bestätigt das auch Ihre therapeutische Arbeit?

Beier: Ja, wenn zum Beispiel ein junger Mann in unsere Ambulanz wegen masochistischer Neigungen kommt, dann können wir feststellen, dass masochistische Bilder schon in seiner Jugend zu seinen Masturbationsfantasien gehörten. Das bleibt bis zum Lebensende ins Gehirn eingraviert. Zu mir kommen 13-, 14-jährige Jungen mit sexuellen Verhaltensstörungen, die sich darin äußern, dass sie sich zu Kindern hingezogen fühlen oder gleichaltrige Mädchen bedrängen. Wenn man sie nach Bildern fragt, die sie sexuell erregen, dann berichten sie immer häufig von Bildern aus dem Internet, die sie gesehen haben.

Morgenpost Online: Betrifft das auch Mädchen?

Beier: Es gibt schon eindeutige Geschlechtsunterschiede im Konsum von Internetpornografie. Jungs glauben, etwas lernen zu können und nutzen es zum sexuellen Erregungsaufbau. Mädchen sind eher abgestoßen. Aber unter dem Druck, dazu gehören zu wollen, steigt die Gefahr, dass viele doch mitmachen, sich in die aufgezeigte Rolle hineinbegeben und als übliche Sexualpraxis auffassen. Es ist ja auch immer wieder erstaunlich, dass sie bei Rap-Musik mit absolut frauenverachtenden Texten mitgehen.

Morgenpost Online: Wie kann so etwas passieren?

Beier: Bindung hat in unserer Gesellschaft nicht den Wert, wie es eigentlich erforderlich wäre. Selbstverwirklichung steht im Vordergrund, die Vorstellung: Ich ziehe aus dem anderen das heraus, was mir nützt. Und die Bindungslosigkeit zeigt sich auch in den Familien. Wo in der frühen Kindheit schon nicht das Gefühl des Angenommenseins entstehen konnte, da suchen die Jugendlichen umso mehr die Anerkennung in der Gruppe und unterwerfen sich auch dem Konformitätsdruck vermeintlich „angesagter“ sexueller Begegnungsweisen. Man macht dann möglicherweise mit, obwohl es einem nicht gefällt. Eben aus Angst vor Ablehnung. Das ist übrigens immer wieder auch eine tragische Dynamik bei sexuellem Missbrauch: Es sind häufig Kinder und Jugendliche, die nicht in der Sicherheit einer gesunden familiären Bindung aufgewachsen sind. Sie docken dann bei Tätern an, die ihnen das Gefühl geben, wichtig zu sein.

Morgenpost Online: Was können die Eltern tun?

Beier: Bindungen kultivieren. Den Kindern Liebe entgegenbringen. Echte zwischenmenschliche Beziehungen müssen eine höhere Priorität bekommen als eine Mallorca-Reise oder irgendein anderes Konsumgut. Ein Kind muss merken, dass es mit allem zu seiner Mutter oder seinem Vater kommen kann. Und die Eltern dürfen die Existenz der pornografischen Angebote nicht einfach übergehen. Sie müssen eine Haltung dazu aufbauen, eine eigene Sicht auf die Dinge, die klar macht: Das sind Darstellungen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Das strahlt auf die Kinder ab.

Morgenpost Online: Brauchen wir eine neue Sexualmoral?

Beier: Wir brauchen erst mal eine öffentliche Diskussion, ein Bewusstsein für das Ausmaß der pornografischen Angebote im Internet und die Folgen für die Sexualentwicklung Heranwachsender. Und wir müssen nach technischen Lösungen suchen, um die Erreichbarkeit pornografischer Seiten einzudämmen. Dabei setze ich zukünftig auch auf die Hilfe der Informatik, mit der die Sexualmedizin eine engere Zusammenarbeit anstrebt.

Morgenpost Online: Was könnte uns helfen, wieder umzudenken?

Beier: Das Rad der Geschichte können wir nicht zurückdrehen. Aber das bereits vorhandene Wissen sinnvoll nutzen. Und da kann ich auf Wilhelm von Humboldt als einen wichtigen Vordenker verweisen. Das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité fühlt sich seinem Vermächtnis besonders verpflichtet. In Kooperation mit unserem Institut und der Mendelssohn-Gesellschaft hat die Wilhelm-von-Humboldt-Gesellschaft gerade ihren Stiftungspreis verliehen. Für den preußischen Staatsmann und Mitbegründer der Berliner Universität beruht die menschliche Natur auf dem Eros, d. h. auf der Liebe zum Anderen, die die spannungsreiche Differenz zwischen den Geschlechtern in einem Dialog der Gleichwertigkeit überwindet. In diesem Sinne bedeutet Eros nicht nur körperliche, sondern auch geistige Anziehung. Das Humboldtsche Grundkonzept besagt, dass man in Beziehungen wächst, vor allem dann, wenn man die freie Entfaltung des Anderen anstrebt, wenn man Interesse daran hat, dass der andere mit wächst und wenn man ihn deshalb vor Schaden bewahrt. Das hat schon eher mit sexueller Beziehungszufriedenheit zu tun und ist auch im Internetzeitalter erreichbar.

Das Gespräch führte Claudia Becker.