Es klingt bizarr, ist aber wahr: Mäuse mit Spielsachen leiden weniger unter Alzheimer und Meerschweinchen-Damen benehmen sich manchmal wie Männer. Deutsche Verhaltensforscher haben den Beweis dafür erbracht. Aus ihren Experimenten geht hervor: Das Verhalten der Tiere liefert Hinweise auf den Menschen.

Der Verhaltensforscher Norbert Sachser und sein Team an der Universität Münster wollte herausfinden, ob Umwelteinflüsse den gefürchteten Gehirnverfall beeinflussen können. Also ließ er sich Mäuse aus einem kanadischen Labor schicken, die im Alter von 60 bis 70 Tagen Symptome der Alzheimer-Erkrankung entwickeln. Ihnen wurde ein mutiertes menschliches Gen eingebaut. Mäuse mit solchen programmierten Erkrankungen sind in der Forschung nichts Besonderes mehr. Schon seit den Achtzigerjahren ist es möglich, Versuchstiere genetisch so zu verändern, dass sie bestimmte Defekte in sich tragen und diese auch weitervererben.

Sachser steckte diese Mäuse in Standardkäfige, kahle Plexiglaskisten mit Sägespänen als Einstreu. Prompt zeigten sich Symptome im Verhalten. Manche liefen immer eine Acht, andere scharrten wie besessen mit den Pfoten in einer Ecke. Als Pathologen die Gehirne sezierten, fanden sie die gleichen Veränderungen wie bei Menschen: krankhafte Eiweißablagerungen, die man Plaques nennt. Die Sache scheint unabänderlich. Mäuse mit Alzheimer-Erbgut kriegen Alzheimer. Es ist genetisches Schicksal.


Doch Norbert Sachser hatte Zweifel, ob es wirklich so eindeutig ist. Als Professor des Instituts für Neuro- und Verhaltensbiologie in Münster forscht er seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Genen und Umwelt. „Über die Frage, wie viel Prozent einer Eigenschaft genetisch sind, werden wir in ein paar Jahren lachen“, sagt er. „Was braucht man zum Backen? Mehl, Wasser, Salz – das kann man in Prozent angeben. Aber man braucht auch einen Herd. Wie viel Prozent des fertigen Brotes stammen vom Herd?"


Könnte es sein, fragt er sich, dass sogar eine Schicksalskrankheit wie Alzheimer durch Umweltfaktoren beeinflussbar ist? Also steckte er einige Tiere in eine Art Mäusespielzimmer. Jeden Tag erhielten sie eine neue geistige Anregung, mit der sie sich beschäftigen konnten: Röhren zum Durchschlüpfen, einen Ball, ein Laufrad und vieles mehr. Auch nach vier Monaten zeigten diese Mäuse immer noch keine Stereotypen, sondern verhielten sich ganz normal, neugierig und aktiv. Offenbar gab es eine stille Reserve im Gehirn, die als Puffer gegen Alzheimer wirkte. Doch die ganz große Überraschung kam erst später, als Pathologen die Gehirne der toten Mäuse untersuchten. Bei den geistig und körperlich aktiven Tieren fanden sie weniger Plaques. Eine Veränderung der Umweltbedingungen hatte den Ablauf der Krankheit verzögert – obwohl die Mäuse genetisch identisch waren.


„Genetische Disposition ist ein sehr relativer Begriff“, sagt Sachser. „Nichts in der Natur ist vollkommen starr und unabänderlich.“ Der alte Streit „Gene oder Umwelt?“ erweist sich immer mehr als Scheingefecht. Generationen von Wissenschaftlern und Laien trugen Glaubenskämpfe darüber aus. In den Sechziger- und Siebzigerjahren war es verpönt, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es angeborene Eigenschaften gibt. Gegen Ende des 20.Jahrhunderts schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Plötzlich war vom Schwulen-Gen, vom Alkoholismus-Gen und diversen anderen Genen die Rede, durch die Menschen auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt seien.


Sachsers Untersuchungen zeigen, dass beide extremen Positionen im Gene-oder-Umwelt-Streit falsch sind. Säugetiere werden nicht als „weißes Blatt“ geboren, das erst durch Umwelteinflüsse beschrieben wird. Noch sind sie Gen-Automaten, deren Programm bereits bei der Vereinigung von Samenzelle und Ei festgelegt ist.


Beispiel Ängstlichkeit: Eine Schlüsselsubstanz für das Angstempfinden ist das Serotonin-Transporter-Molekül. Je nach genetischer Ausstattung hat man mehr oder weniger davon. Eine bestimmte Variante dieser biochemischen Substanz erhöht beim Menschen das Risiko, psychisch krank zu werden. Auch Mäuse sind besonders ängstlich, wenn sie zu wenig davon im Gehirn haben. Wieder nutzte Sachsers Team die Möglichkeit, mit genetisch veränderten Tieren zu arbeiten. Zwei Gruppen wurden gebildet: Mäuse mit Serotonin-Transporter und solche ohne (Serotonin-Transporter-Knock-out-Mäuse).


Erwartungsgemäß zeigten die beiden Stämme unterschiedlich starke Angstreaktionen. Das wurde in einem sogenannten Hochlabyrinth überprüft, zwei schmalen Stegen hoch über dem Boden. Die Maus wird daraufgesetzt, sie bemerkt, dass sie herunterfallen könnte. Ängstliche Tiere flüchten sich sofort in den Teil des Weges, der von sicheren Wänden umrahmt ist. Die Mutigen erkunden den offenen Teil, klettern herum und schauen sich neugierig die Umgebung an – erwartungsgemäß je nach genetischer Ausstattung.


Dann brachten die Forscher Umwelteinflüsse ins Spiel. Sie nahmen Weibchen von beiden Gen-Stämmen und bildeten zwei Gruppen. Die eine Gruppe führte ein geruhsames Leben in ihren Käfigen. Die andere Hälfte wurde während der Trächtigkeit und Säugezeit mit dem Geruch fremder Mäusemännchen konfrontiert. Das löst Irritationen aus, denn fremde Männchen sind eine Gefahr für die Jungen. Nachdem die Muttertiere geworfen hatten, verfügte Sachser über Mäuse, die genetisch zur Ängstlichkeit neigten, deren Mutter aber ruhig und ausgeglichen war. Und solche ohne genetische Ängstlichkeit, deren Mutter jedoch mit vermeintlicher Gefahr konfrontiert worden war. Und die umgekehrte Kombination der beiden Faktoren.


Beim Test auf Ängstlichkeit stellte sich heraus, dass sich die am furchtsamsten verhielten, deren Mutter Gefahr kennengelernt hatte. Doch genetisch bedingte Unterschiede zeigten sich ebenfalls. Die mutigsten Mäuse waren die, die von einer nicht gestressten Mutter ausgetragen wurden und genetisch nicht zur Furcht neigten. Wieder lautete die Antwort: Es ist beides.

Und noch ein dritter Faktor kam ins Spiel: Die Jungmäuse hatten wahrscheinlich keine eigenen negativen Erfahrungen gemacht. Ihr Umweltstress hatte vor allem im Mutterleib stattgefunden. Die Lebensumstände trächtiger Weibchen prägen die Nachkommen offenbar viel stärker, als gemeinhin angenommen wird. In der Gebärmutter wird ein Säugetier auf die Umwelt vorbereitet, die es zu erwarten hat.


Sachser war schon vorher auf diese Spur gestoßen, als er an Meerschweinchen forschte. Meerschweinchen hatten ihn ursprünglich zur Verhaltensforschung gebracht. Im Biologiestudium war ihm aufgefallen, dass die Nagetiere aus Südamerika ein Problem nicht kannten, von dem er in den Fachbüchern immer wieder gelesen hatte: Dichtestress. Setzte man Meerschweinchen in ein Gehege und ließ sie sich fröhlich vermehren, verhielten sie sich ganz anders als die meisten anderen Tiere. Sie fingen nicht an, sich gegenseitig zu attackieren, sondern schienen sich immer wohler zu fühlen. Als Doktorand bekam er heraus, woran das liegt: Meerschweinchen wechseln bei zunehmender Populationsdichte einfach ihre soziale Organisation, bilden immer neue Kleingruppen und leben in guter Nachbarschaft. Es waren offensichtlich unterschätzte Tiere und nicht die primitiven Nager, die man zu kennen glaubte. Ihr beziehungsreiches Sozialsystem blieb verborgen, weil noch niemand die Tiere wirklich genau beobachtet hatte. Als er Professor wurde, richtete er in seinem Institut zuerst große Gehege für Meerschweinchen ein. Er und seine Kollegin Sylvia Kaiser waren begeistert von den sozialen Fähigkeiten, mit denen diese Tiere Situationen friedlich meistern, bei denen Mäuse oder Menschen aggressiv aufeinander losgehen.


Bei den Meerschweinchen stießen sie auch auf das Phänomen der pränatalen Beeinflussung des Verhaltens. Wenn trächtige Meerschweinchen in einer instabilen Umwelt leben, verhalten sich ihre Töchter später maskulin. Sie tanzen „Rumba“. So nennen die Forscher ein typisch männliches Balzverhalten. Beim Rumba tanzen die Tiere um potenzielle Paarungspartnerinnen herum, treten auf der Stelle hin und her, stellen sich auf die Hinterbeine und gurren. Weibliche Meerschweinchen finden das entzückend.


Die maskulinisierten Weibchen weisen einen höheren Testosterongehalt im Blut auf. Sachser und Kaiser fanden heraus, dass man auch diese hormonelle Steuerung durch Umweltfaktoren beeinflussen kann. Versetzt man ein trächtiges Weibchen ab und zu in andere, ihm unbekannte Gruppen, so verändert sich sein Hormonhaushalt. Als Folge bringt es „vermännlichte“ Töchter zur Welt. Als Sachser und sein Team Wildmeerschweinchen in Argentinien und Uruguay beobachteten, wurde ihnen mit der Zeit klar, dass hinter dieser vermeintlich bizarren Reaktion eine kluge Anpassung steckt. Denn die Populationen schwanken extrem von Jahr zu Jahr. Sind es besonders viele, dann ist es nützlich für die Töchter, durchsetzungskräftig und robust zu sein, also männliche Eigenschaften zu entwickeln. Ist die Pampa dünn besiedelt, haben sie das nicht nötig und können ganz Weibchen sein. So beeinflusst die Mutter ihre Töchter schon vor der Geburt.


„In der Vergangenheit galt die ganze Aufmerksamkeit der Frühkindheit“, sagt Sachser. „Wichtige Weichen werden aber schon vorher gestellt. Je nachdem, in welcher Umwelt ein trächtiges Tier lebt.“ Kann man von Mäusen und Meerschweinchen auf Menschen schließen? Da ist Sachser sehr vorsichtig. Doch Hinweise auf menschliches Verhalten geben die Versuche durchaus. Er legt drei Bilder auf den Tisch: Mensch, Schimpanse, Fisch. „Welche zwei gehören in eine Kategorie?“, fragt er. Früher haben die meisten Menschen den Strich zwischen dem Menschen und den beiden Tieren gezogen. „Heute“, sagt Sachser, „finden die meisten, Mensch und Affe gehören zusammen, und der Fisch ist etwas anderes.“ Und das Meerschweinchen? „Ein Säugetier – wie wir.“