Notenstress, Leistungskontrollen und zu frühe Auslese helfen den Schülern nicht und verhindern stattdessen den Lernerfolg, sagt der renommierte Schulexperte Professor Kurt Singer. Seit Jahren engagiert er sich für eine “humane Schule“, jetzt erschien sein neues Buch “Die Schulkatastrophe“. Morgenpost Online sprach mit ihm.
Morgenpost Online:
Sie schildern die Schule als Höhle des Löwen: Kinder werden vorschriftsmäßig gekränkt und Lehrer gehindert, Lernhelfer zu sein. Ist das nicht übertrieben?
Professor Kurt Singer:
Ich sehe die Schule aus der Sicht der Kinder, und da ist sie in der Tat für viele Schüler katastrophal. Ich finde es empörend, dass zum Beispiel rund 250.000 jährlich „sitzen gelassen“ werden. Statt von Lehrern Hilfe zu erhalten, lässt man sie „durchfallen“, obwohl sie sich besser weiterentwickeln könnten, wenn Lehrer sie in die nächste Klasse mitnähmen. Die mitgenommenen Schüler lernen nämlich, wie Untersuchungen und Erfahrungen zeigen, in den folgenden Jahren besser als jene, die die Klasse wiederholen. Das Sitzenbleiber-Elend ist nicht nur für die Betroffenen schlimm, sondern auch für die anderen Kinder. Denn sie erleben ein Angst machendes Lernklima.
Morgenpost Online:
Man spricht auch von Schulangst.
Singer:
Ja, Angst ist so selbstverständlich mit der Schule verbunden, dass es dafür den Begriff „Schulangst“ gibt. Dabei ist nichts dem Lernen abträglicher als Angst; denn sie macht dumm, sie blockiert das Denken. In Deutschland haben etwa zwei Millionen Kinder Angst vor der Schule, das zeigen Studien. Es ist die Angst, aufgerufen, abgefragt, bloßgestellt, überfallartig abgeprüft zu werden und Misserfolg zu erleiden. Aber Kinder brauchen Mut statt Angst. Lehrer ermutigen Kinder, wenn sie diese durch einen individualisierten Unterricht Lernfortschritt erleben lassen.
Morgenpost Online:
Wenn Lehrer für Schulangst verantwortlich sind, was läuft dann falsch in der Lehrerausbildung?
Singer:
Lehrer, ausgenommen Grundschullehrer, lernen in ihrer Ausbildung nicht, wie man mit Kindern umgeht: wie man mit ihnen spricht, ihnen zuhört, sie verstehbar unterrichtet, wie man mit schwierigen Schülern zurechtkommt. Das ist ein Mangel, den Lehrer selbst beklagen. Sie fühlen sich in Konfliktsituationen allein gelassen. Weil sie zu wenig pädagogische Mittel kennen, neigen sie in hilflosen Situationen dazu, Macht auszuüben. Das tut ihnen selbst und den Kindern nicht gut. Andererseits treten Lehrer nicht aus ihrer Einzelkämpferposition heraus, um sich in Kooperation mit anderen Hilfe zu holen.
Morgenpost Online:
Wie kann diese Hilfe aussehen?
Singer: Konfliktbearbeitung mit Schülern kann man lernen in Lehrertrainings, in pädagogischen Selbsterfahrungsgruppen, in Supervision. Da werden die Schwierigkeiten in Einzelgesprächen oder in einer Lehrergruppe durchgearbeitet. Dazu gehört zum Beispiel, die eigenen Schulerfahrungen zu reflektieren: Wie war das bei mir in der Schulzeit? Empfand ich Angst oder Wut? Wenn Lehrer und Eltern ihr eigenes Erleben in der Schulkindheit erinnern, werden sie fühlfähig für die Kinder. Der Lehrer kann sich fragen: Wenn ich Schüler wäre: Würde ich zu mir als Lehrer gern in die Schule gehen?
Morgenpost Online : Wann ist ein Lehrer richtig gut?
Singer: Es ist ein Kompliment, wenn Jugendliche sagen: Bei dem Lehrer lernt man was, und mit dem kann man reden. Sie achten ihn als Autorität, wenn er in seinem Fach kompetent ist, in der Klasse ein gutes Lernklima schafft und eine freundliche pädagogische Beziehung aufbaut. Tugenden sind Verlässlichkeit und die Fähigkeit, jedem einzelnen Kind gerecht zu werden. Autorität verschafft er sich vor allem durch guten Unterricht. Aber nicht alle Lehrer wissen, wie man anschaulich unterrichtet, wie man den Unterricht auf die einzelnen Kinder zuschneidet und wie es gelingt, Schüler tun zu lassen, was sie selbst können. Es löst viele Probleme, wenn Schüler aktiv sein dürfen.
Morgenpost Online: Und weshalb wird das im Lehrerstudium so wenig eingeübt?
Singer: Es ist ein Skandal, dass die Politiker die Kinder nicht für würdig halten, ihre Lehrer so auszubilden, dass sie nicht nur kompetent in ihrem Fach sind, sondern auch erfolgreich unterrichten können! Viele Junglehrer erschrecken förmlich, wenn sie im Referendariat plötzlich Kinder vor sich haben. Eine bessere Ausbildung würde Lehrer auch vor dem Burn-out-Syndrom schützen. Es ist naheliegend, dass Lehrer krank werden können, wenn sie ihren Beruf nicht praxisnah erlernt haben und sich überfordert fühlen.
Morgenpost Online: Sie fordern Lehrer auf, sich häufiger Vorschriften zu widersetzen. An welche denken Sie konkret?
Singer:
Die Testerei zum Beispiel wirkt sich seit Pisa verheerend aus. Die Leistungsstudien hätten durch die guten reformpädagogischen Beispiele den Blick dafür frei machen können, wie Kinder lieber lernen und mehr leisten. Schulbehörden und Lehrer haben jedoch aus Pisa vor allem gelernt zu testen, testen, testen; da wird die Lernschule zur Prüfschule. Gegen diese Testkrankheit sollten sich Lehrer wehren. Etwa gegen die Flut der angeordneten Vergleichsarbeiten, mit denen sie die Kinder zu bewerteten Menschen machen, und das bereits in der Grundschule. Lehrer könnten mit ihrer schulgesetzlich zugestandenen pädagogischen Freiheit gegen den Strom schwimmen.
Morgenpost Online:
Erleichtern Ganztagsschulen den Kindern das Lernen?
Singer:
Für viele sind sie eine gute Einrichtung. Allerdings bin ich dagegen, alle Kinder zu zwingen, den ganzen Tag in der Schule zu bleiben. Ich selbst möchte auch in Ruhe für mich arbeiten können, ebenso möchten sich Kinder zurückziehen und für sich sein. Sie können so besser eigene Talente pflegen und ihren Interessen nachgehen. Anders ist es für jene, denen das zu Hause unmöglich ist. Auch in der Ganztagsschule muss die Individualität des Kindes beachtet werden.
Morgenpost Online: Montessori-Schulen leisten im Grunde, was Sie fordern. Warum sind sie nicht längst Regelschulen?
Singer: Das ist schwer fassbar. Es gibt eine ganze Reihe von reformpädagogischen Vorzeigeschulen, von denen manche mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden. Aber Politiker verhalten sich wie in einer schweren Lernstörung. Sie ignorieren trotz hundert Jahren praktizierter Reformpädagogik die gewonnenen Erkenntnisse, auch die von Pisa, und verordnen das Gegenteil von dem, was Kindern hilft. Nur eine starke Bewegung der Eltern könnte mit ihrem Protest die Politiker zu pädagogischer Vernunft zwingen.