Berlin/Delhi. Das bevölkerungsreiche Land erlebt einen Corona-Tsunami. Das könnte auch an der dort aufgetauchten Doppel-Mutation B.1.617 liegen.
In langen Reihen liegen die Menschen auf Tragen und Betten vor den Krankenhäusern, dahinter stauen sich die Krankenwagen. „Helfen Sie meinen Mann, er erstickt“, schreit eine Frau. Verzweifelt versucht sie, ihn wiederzubeleben. Wenig später ist er tot. Viele sterben schon auf dem Weg in die Kliniken.
Nichts reicht mehr aus in Indien: Die Betten in den Intensivstationen, Medikamente, Sauerstoff, Beatmungsgeräte und Platz in den Leichenhallen. Überall steigt Rauch auf. Die Krematorien sind überlastet. Trauernde Angehörige verbrennen daneben selbst ihre Toten. Unter ihnen sind Kinder, frisch Verheiratete, klagt ein Mann im amerikanischen Sender CNN.
Indien verzeichnet seit Tagen traurige Corona-Rekorde
Erst vor wenigen Wochen hatte der Gesundheitsminister angekündigt, das „Endspiel“ im Kampf gegen die Corona-Pandemie habe begonnen. Jetzt meldet Indien fast jeden Tag mehr als 330.0000 Neuinfektionen – so viele wie zuvor in keinem anderen Land der Welt.
Seit Donnerstag haben sich nach offiziellen Angaben mehr als 1,7 Million Menschen infiziert. Zudem starben in den vergangenen 24 Stunden 2771 Menschen an oder mit Covid-19 – die bisher höchste Zahl an einem Tag. Nach offiziellen Angaben gab es über 198.000 Covid-19-Tote, tatsächlich sind es wohl viel, viel mehr.
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Corona-Krise in Indien: „Es ist ein Albtraum“
„Es ist ein Albtraum“, sagt Ravi Gupta im Gespräch mit unserer Redaktion. Bewerte man die offiziellen Zahlen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, seien sie gar nicht so hoch. „Tatsächlich aber zeigt die Statistik nicht die Wirklichkeit. Die offiziellen Corona-Zahlen viel zu niedrig, sie spiegeln nur die Lage in den Großstädten wider. Auf dem Land und in den Kleinstädten, wo die meisten Inder leben, sterben die Menschen einfach an dem Virus, ohne dass sie in einer Statistik auftauchen. „Das wahre Ausmaß des Dramas ist viel schlimmer“.
Im westindischen Poona versucht er, ein bisschen zu helfen, hat eine private Corona-Quarantäne-Station aufgebaut, wir erreichen ihn auf dem Weg nach Hause per Telefon. Er schimpft auf die Regierung: Der eklatante Sauerstoff- und Medikamentenmangel in den Krankenhäusern sei abzusehen gewesen, „die Regierung hätte das verhindern können“. Noch mehr Sorge aber bereitet Gupta das Virus, „von dem wir alle Mutationen im Land haben“ – auch die britische und südafrikanische.

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Indien ist aktuell globaler Hotspot der Pandemie
In Indien hatten viele geglaubt, das Schlimmste hinter sich zu haben. Im März wurden zeitweise weniger als 20.000 Neuinfektionen pro Tag registriert. Stolz verkündete die Regierung, Indien gehöre mit seiner Mega-Kampagne bei den Impfungen zur Weltspitze und warb für die Vakzine „Made in India“. Wegen der heimischen Großproduktion lobte man sich als „Apotheke der Welt“. Bis Ende Juni sollten 300 Millionen der 1,3 Milliarden Inder geschützt sein. Doch schon im April war das Land ein globaler Hotspot. Statt von einer zweiten Welle ist von einem „Tsunami“ die Rede.

Die Sorge ist groß, dass die neue indische Doppelmutante B.1.617 ein Grund für das rasante Tempo ist, mit dem sich das Virus verbreitet. „Um unsere Impfkampagne nicht zu gefährden, muss der Reiseverkehr mit Indien deutlich eingeschränkt werden“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unserer Redaktion.
Indien wurde zum Virusvariantengebiet erklärt. Nun dürfen nur noch Deutsche aus Indien einreisen. Sie müssen vor Abflug getestet werden und 14 Tage in Quarantäne. Australien, Großbritannien, die Niederlande und Kanada untersagen unterdessen Einreisen aus Indien. In Berlin wird diese Option geprüft.
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Management-Fehler? Indien verzichtete bei zweiter Welle auf Lockdown
Die Mutante B.1.617 ist bisher vor allem in Indien nachgewiesen. Sie tauchte aber auch schon in Singapur, Neuseeland, Australien auf. In Europa wurde sie in Großbritannien sowie in einigen wenigen Einzelfällen in Irland, Belgien, Italien, Spanien und der Schweiz gefunden – und in Deutschland. Lesen Sie auch: Indische Mutation in Belgien entdeckt - Lauterbach warnt
Spahn spricht von aktuell 21 Fällen. „Wir haben das im Blick. Fachlich und politisch“, sagte der Gesundheitsminister. Die Mutante ist in Indien sehr ungleich verteilt, sie taucht in einigen Landesteilen deutlich stärker auf als in anderen. Das kann viele Ursachen haben. Indien verzichtete in der zweiten Welle auf einen Lockdown, feierte stattdessen das hinduistische Pilgerfest. Zu „Kumbh Mela“ strömten wochenlang Hunderttausende Inder zum heiligen Fluss Ganges. Von bis zu 25 Millionen Pilgern ist die Rede. Auch große Sport und Wahlkampfveranstaltungen waren erlaubt. In Kalkutta kamen fast eine Million Anhänger zu einem Auftritt von Regierungschef Naredra Modi. Am Sonntag musste er eingestehen: "Ein Sturm hat die Nation erschüttert".
Corona-Katastrophe in Indien: Ausländische Regierungen sagen Hilfe zu
Die Regierung setzte Militärflugzeuge und Züge ein, um Sauerstoff zu verteilen und bittet um Hilfe im Ausland. Mehrere Länder, auch Deutschland und die USA sicherten Unterstützung zu. Washington prüft die Lieferung von bis zu 60 Millionen Astrazeneca-Impfdosen, der Impfstoff ist in den USA nicht zugelassen. US-Präsident Joe Biden sagte zudem Rohstoffe für die Impfstoffherstellung, Beatmungsgeräte sowie Schutzkleidung zu.
Aus Großbritannien trafen am Morgen als erste Lieferung 100 Beatmungsgeräte und Sauerstoffkonzentratoren ein, weitere sollen folgen. Auch der EU-Katastrophenschutz sagte Hilfe zu. Die Bundesregierung will mit Beatmungsgeräten und Anlagen zur Sauerstoffherstellung, mit Medikamenten und Masken helfen. Die Lieferung sei für die nächsten Tage geplant, so das Auswärtige Amt.
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Entdeckung der Doppel-Mutante stellt Forscher vor Probleme
Bei der Einschätzung von B.1.617 zeigten sich deutsche Fachleute bisher vorsichtig. Vergangene Woche wollten das Robert-Koch-Institut und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Mutante mangels Belegen noch nicht als besorgniserregende Variante einstufen. Wissenschaftler beklagen, dass zu wenige Gensequenzierungen durchgeführt werden. Nicht mal ein Dutzend Labore stehen in dem riesigen Land dafür zur Verfügung.
Es sei aber denkbar, „dass uns die Variante vor neue Herausforderungen stellt“, sagte der stellvertretende Chef des Robert-Koch-Instituts, Lars Schaade, am Freitag. „Wir haben sie unter Beobachtung.“ Als besorgniserregende Variante werde sie mangels Belegen noch nicht eingestuft, während die Tageszeitung „Indian Express“ schon von der Entdeckung einer „Triple-Mutation“ berichtete.
Die Doppel-Mutante B.1.617 zeichnet sich durch zwei eng zusammenliegende Veränderungen auf dem Spike-Protein aus. Es könnte sein, dass sich dadurch der Impfschutz abschwächt, dass man sich trotz Impfung oder ausgestandener Infektion erneut anstecken kann. Ravi Gupta schließt das im Telefongespräch aus Poona nicht aus. „Wir sehen gerade, dass sich immer mehr Ärzte und Pfleger infizieren, obwohl sie geimpft sind“, sagt er: „Es ist eine Katastrophe“.
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