Ein Sklavendrama wird bester Film. Ein Weltraumdrama gewinnt sieben Oscars. Ein Aids-Drama bekommt zwei wichtige Schauspieler-Oscars. Die Bilanz einer dramatischen Filmpreis-Nacht.
Es könne, das hat Moderatorin Ellen DeGeneres gleich zu Beginn betont, viel passieren in dieser Oscar-Nacht. Erstens, dass „12 Years A Slave“ bester Film wird. Oder zweitens, dass „Ihr alle Rassisten seid“. Damit waren die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences im Saal gemeint, die alljährlich über den wichtigsten Filmpreis der Welt bestimmen.
Aber die Academy kann beruhigt sein: Den Rassismus-Vorwurf muss sie sich nicht gefallen lassen. Nach 105 Minuten Verleihung wurde die bis vor kurzem noch gänzlich unbekannte Lupita Nyong’o, die tags zuvor ihren 31. Geburtstag feierte, für das Sklaverei-Drama als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Und Frau Nyong’o, die in Mexiko geboren und in Kenia aufgewachsen ist, sah den Preis in ihrer Dankesrede als Beweis dafür, dass, „egal woher du bist, deine Träume etwas wert sind“.
70 Minuten später durfte auch John Ridley auf die Bühne für seine Drehbuchadaption von Salomon Northops unfassbarem, selbst erlebtem Tatsachenbericht. Und schließlich, ganz zuletzt, wurde „12 Years A Slave“ als bester Film ausgezeichnet. Brad Pitt, schon vier Mal nominiert, bekam endlich einen Oscar, aber nicht als Schauspieler, sondern als Produzent. Und er übergab das Mikro an Regisseur Steve McQueen, den ersten schwarzen Regisseur, der die Königskategorie gewann. Und der betonte kämpferisch, jeder verdiene es, nicht zu überleben, sondern zu leben. Früher war es einmal eine Sensation, wenn ein Schwarzer einen Oscar gewann. Diesmal gab es gleich drei derartige Siege in Folge.
Ein gutes Jahr für Hollywood
„12 Years“ lag mit neun Nominierungen knapp hinter den beiden Favoriten des Abends, „American Hustle“ und „Gravity“, die je zehn Mal aufgestellt waren. Viele glaubten denn im Vorfeld eher ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Trickbetrügern aus „Hustle“ und Sandra Bullock allein im All in „Gravity“. Doch hierin ist auf die Academy, mag man auch noch so oft ihre Überalterung und ihre konservativen Entscheidungen bemängeln, Verlass: Ein Science-Fiction-Film wurde noch nie zum Besten Film gekürt. Und selten geht der Hauptpreis an eine Komödie. Die Königskategorie ist fast immer dem seriösen Drama vorbehalten. Um so mehr, als hier mit „12 Years A Slave“ eines der dunkelsten Kapitel der amerikanischen Geschichte beleuchtet wird.
Zum Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Favoriten ist es dann auch sonst nicht gekommen. Sah es anfangs noch nach der typischen Devise aus, dass Science-Fiction wieder mal nur die Effekte- und Technik-Auszeichnungen erntet, so gingen am Ende auch Kamera, Schnitt und vor allem Regie an „Gravity“. Und es gab Dankesworte des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón auf spanisch.
Noch nie gab es den Hauptoscar für Science Fiction
Am Ende heimste „Gravity“ sieben Oscars ein – und ließ die 86. Oscar-Nacht ein wenig langweilig erscheinen. Denn es war ein ausgesprochen gutes Jahr für Hollywood: Selten gab es so viele Produktionen, die es auch wirklich verdient hatten, nominiert zu sein. Da hätte der eine oder andere Preis vielleicht doch auch einmal auf ein anderes Werk abfallen können. Zumal ein Großteil von ihnen auf wahren Begebenheiten fußten und brisante gesellschaftspolitische Themen anrissen, von der Entführung eines Schiffes vor Somalia in „Captain Phillips“ bis zu Scorseses bitterer Abrechnung mit der Börse in „The Wolf of Wall Street“. Doch am Ende wurden genau diese politischen Dramen ignoriert.
So muss man in diesem Jahr von echten Verlierern sprechen – auch wenn die Academy immer betont, schon die Nominierung sei ein Gewinn. „Nebraska“ und „Captain Phillips“ waren je sechs Mal, „Wolf of Wall Street“ fünf Mal nominiert, doch sie alle gingen leer aus. Ebenso wie „American Hustle“ trotz zehn Nennungen. Da war wohl bei so mancher After-Show-Party eher Katzenjammmer angesagt. Dass Leonardo DiCaprio, zum fünften Mal nominiert, noch immer keinen Oscar gewonnen hat, darf man als persönliche Tragödie ansehen. „Her“, ebenfalls sechs Mal nominiert, gewann immerhin den Preis für das beste Originaldrehbuch.
Der dritte große Sieger des Abends ist das Aids-Drama „Dallas Buyers Club“. Einerseits ist das nicht so ungewöhnlich, schon „Philadelphia“ kam ja zu Oscar-Ehren. Andererseits tut sich Hollywood nach wie vor schwer mit schwulen Themen, wie das Jahr von „Brokeback Mountain“ zeigte. Da gilt es schon als mutig, wenn die offen lesbische Ellen DeGeneres zum zweiten Mal durch den Oscar-Abend führen darf. „Dallas Buyers Club“ hat nicht nur einen Neben-Oscar fürs Make-up bekommen, Matthew McConaughey und Jared Leto wurden beide für ihre darstellerischen Leistungen gekrönt, für die sich bis an die Schmerzgrenze heruntergehungert haben. So tut sich in dieser Oscar-Nacht ein seltsames Zahlenspiel auf. „Gravity“ gewinnt klar nach Punkten mit sieben Trophäen. Und doch wiegen die jeweils „nur“ drei Auszeichnungen von „Buyers“ und „12 Years“ schwerer und nachhaltiger.
Keine Überraschungen
Alles in allem war es eine runde, routinierte Verleihung im Dolby Theatre von Los Angeles, die aber auch völlig überraschungsfrei blieb. Wie erwartet wurde Cate Blanchett zur besten Schauspielerin, „La Grande Bellezza“ zum besten nicht-englischsprachigen Film gekürt. Die Quoten von allen großen Wettbüros haben sich erfüllt. Ellen DeGeneres führte mit kleinen Gags durch den Abend, die aber keine Knaller und auch keine kleinen Bosheiten boten. Das war weniger große Glamour-Show als ein nettes Familientreffen, wenn sie Pizzas für die Stars im Saal verteilte. Kein Laudator verplapperte sich (naja, von John Travolta abgesehen), kein Preisträger wurde von Tränen überwältigt oder stolperte, wie Jennifer Lawrence im Vorjahr, übers eigene Kleid. Es sind aber immer auch diese kleinen Momente, die die überirdischen Stars einmal so menschlich, so berührend machen.
Der Oscar Nr. 86 ist glatt gelaufen. Zu glatt und glamourarm vielleicht. Wo doch der Abend bei all diesen Nominierten sehr spannend zu werden versprach. Eine kleine Geste aber machte doch riesigen Eindruck: Als Ellen DeGeneres für ihre Star-Familienfeier gleich mehrere Oscar-Kandidaten für ein spontanes Selfie fotografierte. Das Foto wurde sogleich auf Twitter gestellt und hatte binnen fünf Minuten 100.000 Aufrufte, bis zum Ende der Gala bereits zwei Millionen sogenannte Retweets. So will sich die alte Tante Oscar jugendlich und modern geben. Das Foto avancierte zum meist verbreiteten Tweet aller Zeiten – und überholte auch den bisherigen Rekordhalter Barack Obama deutlich. Auf diese Art hat dieser Abend doch noch Geschichte geschrieben.
Die Berliner Morgenpost tickerte in der Nacht live: