Manola Rajaonarison wurde in den Libanon vermittelt – offiziell als Haushaltshilfe. Doch dort erlebte sie Schläge, Demütigungen und Vergewaltigungen.
Ihr Notruf war ein Blatt Papier mit der Telefonnummer des Vaters. Sie stand am Fenster der Wohnung im dritten Stock, draußen nichts als die gigantischen Wohnblocks von Beirut. Mühsam unterdrückte Manola Rajaonarison das Zittern, das trotz der Hitze ihren Körper befallen hatte. Immer wieder schaute sie nervös zur Küchentür – sie wusste, dass sie Prügel riskierte, vielleicht mehr. Doch die Hausherren saßen am Mittagstisch.
Es blieben ein paar Minuten. Der Blick wanderte hektisch zum Fenster im dritten Stock des Nachbarhauses. Hinter dem Vorhang erkannte sie endlich Niri. Sie war wie Manola aus Madagaskar in den Libanon gekommen, wie Manola arbeitete sie als Haushaltshilfe. Anders als Manola aber wurde sie nicht geschlagen. Nicht vergewaltigt. Nicht isoliert. Niri las die Nummer und schrieb sie auf. Sie rief den Vater an, noch während Manola den Zettel in Stücke riss.
Acht Monate sind vergangen. Sie ist wieder in Madagaskar. Zu Hause, endlich, auch wenn das aus der bescheidenen Hütte des Vaters bestehen mag. Ein Raum nicht größer als eine Garage, inmitten von Ambohibary, einem der ärmsten Viertel der Hauptstadt Antananarivo. Ende März landete das Flugzeug, das die Regierung auf Druck der madagassischen Hilfsorganisation gechartert hatte. Es hatte neben Manola 85 weitere Frauen an Bord, die von Missbräuchen berichtet hatten.
7000 Frauen aus Madagaskar arbeiten derzeit als Haushaltshilfen im Libanon. Geflüchtet vor dem Leid in der Heimat, wo seit einem Militärputsch im März 2009 der Armutsanteil der Bevölkerung (Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben) von 67 auf 76 Prozent angestiegen ist. So eine Zunahme ist selbst nach politischen Krisen selten. Die Nachfrage nach Frauen stieg zudem gewaltig, nachdem die Philippinen nach Berichten über Misshandlungen ein Kooperationsabkommen mit dem Libanon zur Entsendung von Arbeitskräften beendet hatten. Für Mädchen wie Manola bedeutete die Reise in den Libanon der Beginn eines Martyriums.
Ein Beispiel modernen Menschenhandels, dessen Relevanz erst vor einigen Tagen in Nigeria wieder einmal deutlich wurde: 32 schwangere Teenager wurden verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie die Babys für jeweils rund 120 Euro an einen Kinderhändlerring verkaufen wollten. Das Problem zählt zu einem der am meisten unterschätzten unserer Zeit: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes gibt es noch immer weltweit zwölf Millionen Sklaven. Manola, für deren Vermittlung eine Agentur umgerechnet 2830 Euro kassierte, hatte noch Glück: Denn sie lebt. An Bord des Flugzeuges befanden sich auch zwölf Leichen. Seit Jahren hatten Hilfsorganisationen wie Human Rights Watch auf die hohe Zahl der Selbstmorde und Arbeitsunfälle der Frauen hingewiesen.
Nach Angaben von Human Rights Watch waren es bis zu acht monatlich. Das Büro der Vereinigung der Sozialarbeiter, SPDTS, liegt in einer kleinen Seitenstraße, die Schlaglöcher sind so tief, dass man dort entweder mit einem Geländewagen hinfährt oder gleich zu Fuß geht. In einem Büro voller Aktenordner steht Norotiana Randimbiarison vor ihrem Computer, sie ist die Leiterin der von Unicef unterstützten Organisation. Auf ihrem Bildschirm ist die Leiche einer Frau zu sehen, an mehreren Stellen sind frische, hastig vernähte Operationswunden zu sehen.
"Wir haben bisher erst zwei Autopsieberichte bekommen, beiden Leichen fehlen aber mehrere Organe", erzählt Randimbiarison, und ihr mächtiger Körper verkrampft sich vor Wut, "wir müssen davon ausgehen, dass die Frauen Opfer von Organhändlern geworden sind." Die Agenturen würden ihrer vertraglich zugesicherter Sorgfaltspflicht nicht nachkommen, klagt sie. "Es kümmert sich kein Mensch mehr, was mit den Mädchen passiert."
Traumatisiert und arbeitsunfähig
Manola kann wegen des Traumas noch nicht wieder arbeiten, aber ihre Geschichte will sie erzählen. Die 20-Jährige sitzt auf einem Wohnzimmersessel in der Hütte des Vaters, die Haare zum Zopf gebunden, sie sieht mit ihrem runden Gesicht noch sehr kindlich aus. Man hat ihrem Leben jede Ordnung entrissen, dafür hat sie jedem Quadratzentimeter in diesem Raum seine feste Funktion gegeben.
Das Geschirr steht ordentlich auf dem Wohnzimmerschrank gestapelt. Und überall sind Blumen, vor dem Schrank, auf dem Tisch, unter der Decke. Trockenes Plastik. Wenn man ihre Blüten anfasst, entsteht ein raues Gefühl auf der Haut. Doch die Schönheit dieser Blumen soll nicht verblühen. Und selbst echte Pflanzen könnten den Gestank des Andriantany-Kanals nicht übertünchen, der in das Zimmer dringt. Er wird immer da sein.
Manola spricht leise, Vater Alfred sitzt schweigend neben ihr. "Nachbarn hatten mir von dem Programm erzählt. Ein paar Wochen später saß ich mit elf anderen Mädchen im Flugzeug, und wir haben überlegt, was wir mit dem Geld kaufen können", erzählt sie, "ich habe von einem eigenen Haus für meine Familie geträumt."
Bei der Ankunft wurde der Pass abgenommen
30 Euro betrug ihr Lohn damals in einer Textilfabrik, im Libanon waren ihr 150 Dollar (102 Euro) versprochen worden, dazu freie Kost und Logis. Nicht viel, aber mehr als in Madagaskar. Bei der Ankunft aber nahm ihr die Polizei den Pass weg und gab ihn der libanesischen Familie.
In der Nacht kamen sie in der Vierzimmerwohnung an, ihr erster Arbeitstag begann kurz darauf um fünf Uhr und endete um zwei Uhr am Morgen. Es sollten ihre regulären Arbeitszeiten werden, selbst wenn sie krank war. Das Zimmer, in dem das Telefon stand, blieb abgeschlossen. Bald folgten die ersten Schläge, oder aber der Mann schüttelte sie minutenlang, es reichte ein zerbrochener Teller. Welche anderen Misshandlungen es gegeben habe? "Ich hatte eine schwere Zeit", sagt sie nur.
"Es ist nicht alles schlecht"
Harilala Julio gibt trotz derartiger Vorwürfe, die es zu Hunderten gab, den Ahnungslosen. Er ist der Präsident des Dachverbands von 28 Arbeitsvermittlungsfirmen, die Frauen in den Libanon gebracht haben. "Soweit ich weiß, ist keine Agentur von Missbräuchen informiert worden", behauptet er, auch von Organhandel sei ihm nichts bekannt. Stattdessen beschwert er sich über ein vorläufiges Vermittlungsverbot, das im März nach den zunehmenden Beschwerden verabschiedet wurde. "Es ist nicht alles schlecht, nur wenige Frauen haben eine schwierige Zeit im Libanon erlebt."
Manola aber kennt viele Beispiele von Frauen, die wie sie fast nie bezahlt wurden. Ihr Notruf hatte anders als der anderer Opfer Erfolg, über 500 Rückkehranträge liegen noch vor: Der Vater erzwang mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen immerhin Telefongespräche mit der Tochter. Die Polizei im Libanon setzte schließlich ihre Herausgabe durch.
Die Familie gehorchte – und entging einer Anklage. Manola hat ihrem Vater nie erzählt, dass sie mehrfach sexuell missbraucht wurde. Aber der Mutter. Noch immer macht sie sich wegen des Geständnisses Vorwürfe. Nur Stunden nach dem Telefonat erlitt die alte Frau einen Herzinfarkt. Sie erlebte die Rückkehr der Tochter nicht mehr.