1. FC Union Berlin

Timo Baumgartl ist ein eisernes Vorbild

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Julian Städing
Timo Baumgartl wird nach dem Training des 1. FC Union von Autogrammjägern umlagert.

Timo Baumgartl wird nach dem Training des 1. FC Union von Autogrammjägern umlagert.

Foto: imago/Matthias Koch

Die Krebsdiagnose war ein Schock für Timo Baumgartl. Aber ans Aufgeben hat der Profi des 1. FC Union nie gedacht.

Berlin. Mit dem Anforderungsprofil des modernen Profifußballers geht eine gewisse Vorbildfunktion einher. Oftmals bleibt vom vorbildlichen Dasein allerdings nur die Worthülse übrig, Taten oder Charakterzüge, die die besondere gesellschaftliche Rolle unterstreichen, entfallen. Nicht so bei Timo Baumgartl.

Der vom niederländischen Vizemeister PSV Eindhoven noch bis zum Saisonende an den 1. FC Union ausgeliehene Innenverteidiger ist gerade mal 26 Jahre alt, aber schon kahlgeschoren. Die erschütternde Hodenkrebs-Diagnose, die Baumgartl Anfang Mai bei einer Routine-Vorsorgeuntersuchung von seinem Urologen mitgeteilt bekam, ließ bei der Frisur wenig Spielraum.

Timo Baumgartl wirkt klar und sogar humorvoll

So führte auch an mehreren Zyklen Chemotherapie kein Weg vorbei, Baumgartl musste sich für die Tumorentfernung einer Hodenoperation unterziehen, lag mehrere Tage in der onkologischen Klinik der Berliner Charité. Ein lebensverändernder Schicksalsschlag, besonders für einen Profisportler im besten Fußballeralter, dessen gesunder Körper immer noch das größte Kapital ist.

Trotzdem betritt am Mittwochmittag kein gebrochener junger Mann den Presseraum im Stadion an der Alten Försterei, verständlich wäre das allemal, sondern einer, der erstaunlich klar wirkt, aufgeräumt und sogar humorvoll. „Als Fußballer habe ich eine Vorbildfunktion. Ich finde es wichtig, zu zeigen, dass diese Krankheit auch junge Menschen trifft“, sagt Baumgartl in einer in Köpenick anberaumten Medienrunde.

Er habe sich dazu entschieden, offensiv mit jener Krankheit umzugehen, die kürzlich auch bei den beiden Bundesligakollegen Marco Richter (Hertha BSC) und Sébastian Haller (Borussia Dortmund) diagnostiziert wurde. Assoziationen zum gleich gelagerten Fall vom damaligen Eintracht-Frankfurt-Akteur Marco Russ aus dem Jahr 2015 schwingen überdies mit.

Baumgartl hofft nach Trainingsrückkehr auf viele Einsätze

„Auch wenn die düsteren Gedanken natürlich da sind: Man muss sich mit so einer Diagnose nicht verstecken“, betont Unions großgewachsener Abwehrspieler. Das ist sicherlich richtig, die Reife, mit der der 26-Jährige seine Krebserkrankung annimmt, überrascht aber durchaus. Während für viele Männer allein schon der Gang zum Urologen mit Angst oder Scham behaftet ist, verbarrikadiert sich Baumgartl auch nach der vom Arzt erhaltenen schlimmen Nachricht nicht. Und das wirkt in der Tat: vorbildlich.

Es nötigt Respekt ab, wie scharf der ehemalige Junioren-Nationalspieler den Blick auf die Saison mit seinem an der Europa-League teilnehmenden Klub bereits gestellt hat: „Ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch und hoffe auf jeden Fall, in dieser Saison mehr als nur ein Spiel zu machen. In erster Linie ist für mich wichtig, wieder auf dem Platz zu stehen.“

Das war Anfang August das erste Mal nach der Diagnose der Fall, aktuell absolviert Baumgartl sein Rehaprogramm parallel zur Mannschaft. Vor elf Tagen gab es nach der Abschlussuntersuchung dafür die Zustimmung der Ärzte, über den Einstieg ins Mannschaftstraining wird die medizinische Abteilung in der nächsten Zeit entscheiden. Die dreimonatige Nachsorgepflicht bleibt.

Auch während der Chemo-Phase Jogging

Baumgartls Ehrgeiz bekam auch Freundin Julia während einer gemeinsamen Wandertour in Österreich zu spüren. 120 Kilometer in sechs Tagen standen auf dem Programm: „Sie dachte, sie wäre schneller als ich, aber keine Chance“, sagt Baumgartl und lacht. Die gute Prognose, die die Ärzte dem gebürtigen Böblinger gaben, überstrahlte seine anfangs durchaus vorhandene Todesfurcht: „Man muss sich zwangsläufig damit beschäftigen, was ist, wenn man nicht mehr da ist. Aber diese Gedanken bringen dich nicht weiter.“

So packte Baumgartl sogar während der kräftezehrenden Chemo-Zeit der Ehrgeiz. Er stand in aller Herrgottsfrühe auf und spulte sein tägliches Joggingprogramm von fünf Kilometern diszipliniert ab. Immer mit dem großen Ziel vor Augen, das auch in den schwierigsten Phasen anspornte: Rückkehr in die Bundesliga.

Baumgartl ist stolz, ein Vorbild zu sein

Die Rückkehr ins Leben zu allererst – die ist Timo Baumgartl bereits gelungen. Und die Prioritäten, so sagt er, haben sich merklich verschoben: „Ganz klar: Man lernt die Sachen mehr zu schätzen. Wenn jemand zur Vorsorgeuntersuchung geht, weil er durch meinen Fall auf das Thema Hodenkrebs aufmerksam geworden ist, dann macht mich das stolz“, erklärt Baumgartl.

Vom Verein habe er stets Unterstützung erfahren, darüber hinaus ließen sich positive Auswirkungen auch außerhalb der Fußball-Blase beobachten. „Ich habe von Berliner Urologen gehört, denen nach Bekanntwerden meines Falls die Bude eingerannt wurde. Andere Krebsbetroffene gehen nun selbstbewusster um mit ihrer Geschichte – es macht mich stolz, so etwas zu hören“, sagt Baumgartl.

Zurück zur Vorbildfunktion. Timo Baumgartl füllt sie aus, das wird deutlich, wenn man ihn mit Fokus auf die Zukunft reden hört. „Man muss die Dinge am Ende auch mit Humor nehmen. Das entspricht am ehesten meinem Naturell“, verdeutlicht er seine Sicht der Dinge. Um eine Kostprobe von seinem Pointen-Verständnis zu bekommen, lohnt ein Blick aufs Instagram-Profil des eisernen Defensivmannes: Aktuelle Schnappschüsse aus dem Rehatraining sind da zu sehen. Timo Baumgartl wirkt fokussiert, ist aber eindeutig haarlos. Die lakonische Bildunterschrift lautet: „Heute mal mit Mittelscheitel.“

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