FUSSBALL

Andreas Neuendorf: „Der Berliner Stil ist frech und mutig“

| Lesedauer: 13 Minuten
Uwe Bremer
Trainer Andreas Neuendorf (2.v.r.) mit seinen Spielern aus der U23 von Hertha, links Cotrainer Malik Fathi.

Trainer Andreas Neuendorf (2.v.r.) mit seinen Spielern aus der U23 von Hertha, links Cotrainer Malik Fathi.

Foto: Foto: Uhlemann / pa/dpa

Hertha-Idol Andreas Neuendorf über die Berliner Mentalität, Millionen-Summen und warum es nie wieder einen Arne Maier geben wird.

Berlin.  Der Publikumsliebling von einst, ein Bruder Leichtfuß und für kesse Sprüche zuständig, trägt heute reichlich Verantwortung: Andreas Neuendorf (44) arbeitet als Trainer der U23 von Hertha BSC nicht nur an der Schnittstelle zwischen Jugend- und Männerfußball. Als Karrierecoach ist der langjährige Bundesliga-Profi heute auch zuständig für die Entwicklung der Toptalente. Die Posten hat er im Sommer von Ante Covic übernommen, dem neuen Trainer der Hertha-Profis. Die Morgenpost hat Neuendorf zum Gespräch getroffen.

Berliner Morgenpost: Alle zehn Jahre muss der Pass erneuert werden: Haben Sie im neuen Pass Ihren Künstlernamen „Zecke“ mitgenommen?

Andreas Neuendorf: Ja, ich war gerade beim Passamt. Ich hatte meinen verloren und sollte überprüfen, ob alles richtig ist. Und ja, „Zecke“ steht dort noch drin.

Sie haben zwei Vornamen: Wer nennt Sie Andreas, wer Rainer?

Rainer nennen mich enge Freunde, wenn sie mich aufziehen wollen. Den richtigen Vornamen benutzt eigentlich niemand. Nur meine Mutter, wenn ich etwa einen Geburtstag vergessen habe: Andreas, da musst du dran denken. (lacht)

Seit 2012 wird die Regionalliga Nordost in der derzeitigen Form gespielt: Aktuell ist die U23 von Hertha Tabellenführer – das gab’s noch nie.

Ich denke trotzdem nicht, dass diese Saison eine besondere ist. Aber die Konstellation fügt sich gerade: Die U23 spielt momentan das, was wir in der Akademie wollen: Spiele bestimmen, Angriffsfußball. Und wir haben ein paar exzellente Stürmer für diese Liga mit Maximilian Pronichev, Muhammed Kiprit oder Jessic Ngankam …

Ist Herthas U23 zu gut für die Liga?

Der Zweck der U23 ist die Ausbildung der Jugendlichen nach den Akademie-Jahrgängen. Es ist oft so, dass die Jungs noch ein Jahr Vertrag haben, wenn sie aus der Jugend in den Männerbereich kommen. Wir schauen uns das erste Jahr bei der U23 dann an, um zu entscheiden, ob es mit dem Spieler bei Hertha weitergeht oder ob sich die Wege trennen.

Große Hoffnungen ruhen bei Hertha auf dem 1999er-Jahrgang, der 2018 deutscher A-Jugendmeister geworden ist. Nachdem die meisten eine Saison bei den Profis trainiert haben, spielen Dennis Smarsch, Florian Baak, Palko Dardai, Maurice Covic, Muhammed Kiprit oder Dennis Jastrzembski bei der U23.

Wir wollten den einen oder anderen Jungen zu einem Profiklub ausleihen. Das hat im Sommer nicht geklappt. Für die Jungs wäre es fatal, weiter im großen Profikader zu bleiben, und an Spieltagen stehen sie dann nicht mal in der Nähe des 20er-Aufgebots. Jetzt haben die Jungs eine feste Heimat bei der U23 und die Bühne Regionalliga. Sie machen das sehr ordentlich: Palko [Dardai] war bisher an vielen Toren beteiligt, genauso wie Mo Kiprit oder Maximilian Pronichev. Es kommen viele Scouts zu unseren Spielen und schauen sich das genau an: Wie schlagen sich die Jungs im Wettkampf, wie ist der Leistungsstand? Deshalb sage ich Ihnen: Das hier ist eine Win-win-Situation …

… wer bei den Profis trainiert hat, möchte vor 50.000 Zuschauern Bundesliga spielen – und nicht in Auerbach.

Das ist aber Wunschdenken. Der einzelne wünscht sich, dort zu spielen. Aber es gibt andere, die dort auch spielen wollen, Stichwort Konkurrenzkampf. Dann gibt es einen, den Trainer, der entscheidet. Im Sommer wurde entschieden, dass diese Jungs nicht zum engsten Kreis der Profis gehören. Aber sie werden nicht fallen gelassen, sondern sie sind bei uns in der U23 und werden dort weiter gefördert.

Als Tabellenerster will man aufsteigen, oder?

Wir sprechen da offen mit den Jungs drüber: ‚Schaut nicht auf die Tabelle, lasst euch nicht auf die Schulter klopfen. Es ist nicht unser Anspruch, dass wir in der Regionalliga auf Platz eins stehen oder vielleicht mal in die Dritte Liga aufsteigen. Ihr seid bei Hertha BSC. Unser Anspruch ist es, euch für den Profibereich zu entwickeln, für die erste oder Zweite Liga.‘

Wer wird der nächste Arne Maier bei Hertha?

Keiner. Es wird nie wieder einen Arne Maier oder einen Vedad Ibisevic oder „Zecke“ Neuendorf geben. Weil Arne einzigartig ist. Genau wie jeder andere meiner Jungs. Arne war für unsere Akademie ein besonderer Spieler, weil er eine sehr starke Außenwirkung hatte durch die vielen guten Spiele, die er für den DFB und für Hertha BSC gemacht hat.

Anders gefragt: Auf welchen Nachwuchsspieler dürfen sich die Hertha-Fans freuen.

Wenn ich jetzt Namen nenne und zwei, drei Spieler vergesse, lesen deren Eltern das und fragen sich: Warum wird mein Junge nicht genannt. Aber wir haben wirklich viele tolle Spieler. Ich nenne beispielsweise Luca Netz: Das ist ein Abwehrspieler, der in dieser Woche in der deutschen U17-Nationalelf gegen England zwei Tore gemacht hat. Oder Lazar Samardzic, der in seinem ersten U19-Länderspiel ein Tor erzielt und eines vorbereitet hat. Das sind Spieler, die für Schlagzeilen sorgen werden.

Welche Rolle spielt Geld?

Ich habe selber mit am Tisch gesessen, als Eltern und Berater erzählt haben, dass sie große Angebote von wirklich renommierten Vereinen haben. Es ging um sieben- bis achtstellige Summen.

Moment: Bei 18-, 19-Jährigen geht es um Summen von fünf oder 15 Millionen Euro?

Das sind Summen, da sage auch ich: Das kann man kaum glauben. Aber so ist der Markt jetzt. Für mich ist es ein Vorteil, wenn man selbst mal Profi war und gelernt hat, damit umzugehen. Ich kann mich an meine Anfänge erinnern …

Was war Ihr Einstiegsgehalt 1994 in der Bundesliga?

Bei Bayer Leverkusen habe ich mit 10.000 Mark angefangen. Bei meinen Kumpels in Berlin war ich damit der King. Aber auch zu meiner Zeit war es so: Ich habe bei Bayer später mit Michael Ballack zusammengespielt und gelesen, dass der in einem Jahr mehr verdient, als ich in fünf oder sechs Jahren. Ich habe damals gelernt zu gönnen. Das ist auch heute ein großes Thema. Ich versuche den Jungs beizubringen, dass sie gönnen können. Man soll auf sich schauen – und nicht auf andere. Wenn andere mehr verdienen: Im Fußball geht es nach dem Leistungsprinzip. Die Jungs selber sind weniger das Problem. Meist ist es das Umfeld, das immer noch mehr will: mehr Anerkennung, mehr Schlagzeilen. Wir Trainer in der Akademie versuchen, den Jungs auf dem Weg zum Profi unsere Werte zu vermitteln.

Der Kampf um die Talente ist intensiver geworden. Nicht nur Hertha, auch Wolfsburg, Leipzig oder die Bayern fischen in Berlin nach den besten Jugendlichen.

Auch bei anderen Vereinen wird im Nachwuchs gut gearbeitet. Wir haben einen Standortvorteil, denn Berlin ist vielfältig und bunt. Wir haben die Chance auf den ersten Zugriff. Da müssen wir überzeugen, dass Hertha BSC der richtige Partner für die Ausbildung der Jungs ist.

Hertha hat mit Jessic Ngankam, Muhammed Kiprit, Maximilian Pronichev gleich drei treffsichere Stürmer. Soviel Auswahl im Angriff gab es lange nicht?

Meine Aufgabe ist es, die Jungs darauf vorzubereiten, dass sie, wenn sie bei den Profis trainieren, dort mithalten können. Jessic wurde gerade ausgezeichnet als bester Torschütze der Junioren-Bundesliga, in der Saison davor hat Mo Kiprit diese Auszeichnung erhalten. Dazu kommt noch Daishawn Redan von den Profis, der zweimal in der Regionalliga dabei war und jeweils ein Doppelpack geschnürt. Als Hertha BSC kann den Trainern doch nichts Besseres passieren, als dass sie auf einer Position die Auswahl zwischen mehreren sehr guten Optionen haben.

Da ist der Trainer als Moderator gefragt.

Ja, aber auch die Spieler wissen, was los ist. Ich hätte früher sagen können: Wieso spielt Marcelinho und nicht ich? Aber ich wusste, dass Marcelinho unser bester Spieler war. Oder Yildiray Bastürk – ein sensationeller Spieler oder Stefan Beinlich oder Sebastian Deisler. Ich habe denen gegönnt, dass sie spielen. Ich bin ein großer Berlin- und Hertha-Freund. Wenn wir gute Jungs haben, will ich die auf dem Platz sehen. Aber ich erkenne auch an, wenn ein anderer gute Leistung bringt. Dann müssen unsere Jungs halt noch mehr Gas geben.

Ich spreche jetzt nicht mehr mit dem U23-Trainer sondern dem Karrierecoach Neuendorf?

Das schwierigste, worum alle kämpfen, ist Anerkennung. Die bekommt man in einer Gruppe über Leistung. Ich sage den Jungs: Wenn du Häuptling sein willst, dann musst du leben wie ein Häuptling. Du musst auch manchmal Entscheidungen treffen wie ein Häuptling für die Gruppe – und nicht nur, weil es um deinen besten Kumpel geht.

Herthas U23 spielt nicht nur 17 Hinrunden-Partien in der Regionalliga, dazu kommen sechs weitere Spielen beim Premier League International Cup und dem Baltic Sea Cup. Warum?

Wir versuchen die Jungs bestmöglich an den Männerbereich heranzuführen. Und diese Spiele im internationalem Vergleich sind auch eine Standortbestimmung für uns. Die Abläufe in der U23 um ein Spiel herum ähneln denen der Profis. Wir haben immer drei Elemente: Es gibt ein Video, zehn, zwölf Minuten zur Gegner-Vorbereitung. Danach geht es raus zum Training. Im Anschluss gibt es ein kleines Video: Wie wollen wir den Gegner bespielen? Element drei ist die Auswertung: Wie haben wir das, was wir uns vorgenommen haben, umgesetzt?

Seit der WM 2018 wird in Fußball-Deutschland über Änderungen im Nachwuchs diskutiert: Mehr Spielformen, weniger Taktik, mehr die Stärken der Spieler fördern. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Arbeit?

Ich schätze das, was der DFB macht, sehr. Ich habe dort hospitiert, war dort bei Fortbildungen oft dabei. Aber diese Diskussion berührt uns bei Hertha kaum, weil wir schon immer nicht nur fördern, sondern auch fordern. Als Berliner haben wir eh einen eigenen Stil auf dem Platz …

Was ist der Berliner Stil?

Frech. Mutig.

Also so, wie der Spieler Neuendorf war.

Zum Glück sind die Jungs nicht mehr so frech wie ich früher. (lacht) Was ich meine: Dass man sich etwas zutraut. Ein Beispiel: Meine Jungs sind aufgefallen, weil sie Mut zu Eins-gegen-eins-Situationen haben, Dribblings gewagt und viele Tore geschossen haben. Dazu ermutigen wir Trainer sie. Deshalb wurden viele von ihnen zur Nationalmannschaft berufen. Da aber heißt es: im Zweifel einfach spielen. Damit nimmt man den Spielern aber ein Stück weit ihre Stärken. Wir bei Hertha haben das Individuelle schon immer gefördert. Das sehe ich als meinen Auftrag als Karrierecoach.

Wie sieht der Karriereplan von Andreas Neuendorf aus?

Ich habe die A-Lizenz. Bis zum 15. Januar [2020] kann man sich für die Fußballlehrer-Lizenz bewerben. Mein Ziel ist es, den Fußballlehrer so schnell wie möglich zu erwerben. Nicht, um den einfach nur zu haben: Ich möchte bei der Ausbildung noch mehr lernen. Ich möchte vom DFB lernen, aber auch vom Austausch mit den Kollegen im Lehrgang.

Ziel ist aber schon, Profi-Trainer zu werden?

Ich will vor allem lernen. Sollte es am Ende des Weges so sein, dass ich Profitrainer werde, ist das so. Aber erstmal muss ich überhaupt für den Lehrgang angenommen werden. Bis ich den Schein dann tatsächlich hätte, dauert das von heute aus gesehen mindestens 18 Monate. Da kann noch viel passieren.