Am Sonnabend spielt Hertha gegen Borussia Mönchengladbach. Den Namen des Gegners nenne ich hier nur der Vollständigkeit halber, kein Fußballfan spricht ihn komplett aus. Stattdessen heißt es „Gladbach“, „Fohlen“ oder: „Die Macht vom Bökelberg“ – das Lieblingssynonym meines Vaters. Als kleiner Junge ließ ich mich davon beeindrucken. Die Macht vom Bökelberg, das strotzte vor Stärke, ja, vor Unbesiegbarkeit. Wenn wir also ins Olympiastadion fuhren und Hertha gegen die Macht vom Bökelberg spielte, war die Rollenverteilung klar. Hier die kleine Hertha, auf der anderen die mächtigen Gladbacher, mehr Mythos als Mannschaft.
Es dauerte nicht lange, bis ich bemerkte, dass mein Vater seine Wahrnehmung der sportlichen Kräfteverhältnisse aus den 70er-Jahren mit in die Gegenwart geschleppt hatte. Gladbach war längst keine Macht mehr, und der Bökelberg sollte bald abgerissen werden, aber das tat nichts zur Sache. Wenn Gladbach kam, ging es ins Olympiastadion. Mein Onkel war dort immer anzutreffen, wenn der FC Bayern vorbeischaute. Und mein Bruder markierte sich den Besuch des 1. FC Köln im Kalender. Sie merken: Unsere Ausflüge ins Olympiastadion richteten sich nach dem Gegner.
Um Hertha ging es nie, und das ist ja oft auch heute noch das Problem. In eine Stadt der Zugezogenen zieht auch immer deren alte Heimat mit. Sie hat sich mit in den Koffer geschlichen und verharrt dort unter der Woche. Am Sonnabend aber, da kommt sie zum Vorschein, in Form von Trikots oder anderen Devotionalien. Der Bremer in Berlin bleibt Werder-Fan, der Schwabe hält es weiter mit dem VfB Stuttgart. Warum auch nicht? Echte Fans sind keine Wendehälse.
Aus Sicht von Hertha BSC ist das ein Problem. Wenn über den Zuschauerschwund der vergangenen Saison und die Gründe diskutiert wird, muss auch berücksichtigt werden, dass es in dieser Stadt schwer ist, neue Anhänger zu gewinnen. Deshalb hat der Klub Agenturen mit Marketingexperten und Werbetextern engagiert. Heraus kommen dann Kampagnen, die helfen sollen, Hertha attraktiver zu machen. Das klappt mal besser und mal schlechter.
Die beste Werbung betreibt gerade ohnehin die Mannschaft. Vergangenen Sonntag war Pal Dardai in einer viel gesehenen Fußball-Talkshow zu Gast und nutzte die Gelegenheit, um über den Weg zu reden, den Hertha gerade geht. Also junge Talente einzubauen, teils aus der eigenen Akademie, teils von außerhalb. Während Dardai sprach, nickten die anderen Fußball-Weisen der Runde anerkennend und blickten drein, als würde er die ballgewordene Offenbarung verkünden. Warum sind wir da nicht drauf gekommen, stand in ihren Gesichtern geschrieben.
Nun ist Hertha nicht der erste Bundesligist, der sich eine strikte Verjüngungskur verordnet hat, nur gibt es derzeit kaum einen Klub, der sie so konsequent und systematisch durchzieht. In Branchenkreisen raten Berater ihren jungen Spielern immer stärker zu einem Wechsel nach Berlin, wenn die Karriere richtig ins Laufen gebracht werden soll.
Was aber die Außenwahrnehmung angeht, wird noch zu oft von Berlin als Weltstadt gesprochen, die doch bitteschön auch einen Fußballverein auf Weltniveau haben sollte. Berlin ist aber auch jung und nicht immer berechenbar, im Positiven wie im Negativen. Herthas aktuelle Mannschaft passt dazu. Mit Spielern wie Arne Maier, Jordan Torunarigha oder Valentino Lazaro gibt es genügend Figuren, mit denen sich Kinder und Jugendliche identifizieren. Die sich kleiden wie sie, die die gleiche Musik mögen oder die gleichen Social-Media-Aktivitäten pflegen. Um diese Generation wird es gehen. Das sind die Stadionbesucher von morgen. Darunter die Kinder der Zugezogenen, die in Berlin geboren wurden und denen es egal ist, wie der Gegner heißt.