Weit unten im Innenleben des Stadion Lusail hatte sich Julian Alvarez einen schwarzen Kulturbeutel unter den linken Arm geklemmt; und es wirkte so, als würde er sich zusätzlich mit seiner rechten Hand an diesem Beutel festkrallen, um Halt zu suchen, während er mit der sich drängelnden Medienmeute sprach. In seinem Gesicht konnte man Pickel entdecken, sie verrieten, wie jung dieser Fußballer noch ist.
Auf dem Platz aber hatte Julian Alvarez, 22 Jahre alt, zuvor jegliche Scheu abgelegt. Den Elfmeter, den Lionel Messi verwandelte, hatte er rausgeholt (34.). Das zweite Tore hatte er durch einen langen Lauf erzwungen, der zwar nicht so elegant aussah wie Messis Dribblings, aber von Durchsetzungswillen durchdrungen war (39.). Beim dritten Tore nutzte der Stürmer eine Vorlage des erneut atemberaubenden Lionel Messi (69.).
Argentinien verfügt über viel Talent in den eigenen Reihen
Argentinien siegte 3:0 (2:0) gegen den Vizemeister Kroatien und steht nun im Finale am Sonntag (16 Uhr deutscher Zeit/ARD), das ebenfalls im Stadion Lusail stattfinden wird. Messi kann dort im Alter von 35 Jahren seine Karriere krönen, um anschließend vielleicht aus der Nationalmannschaft zurückzutreten.
Alvarez hingegen erhält schon früh in seiner Laufbahn die Chance, den größtmöglichen Titel im Fußball zu gewinnen und wird natürlich trotzdem ein Teil des Südamerikameisters bleiben. Der Angreifer steht für eine neue argentinische Generation, vollgepumpt mit Willen und Talent, für viele war Messi ein Idol in der Jugend. Alvarez, Alexis Mac Allister (23/Brighton & Hove Albion), Lisandro Martinez (24/Manchester United) und Enzo Fernandez (21/Benfica Lissabon) sind bereit, sich für den großen Star in den eigenen Reihen zu zerreißen und verdeutlichten gleichzeitig, dass Argentinien auch nach Messi noch eine bemerkenswerte Mannschaft beisammenhaben wird.
Alvarez rannte einfach geradeaus, als er zum 2:0 traf
Er sei einfach geradeaus gerannt, erzählte Julian Alvarez über sein erstes Tor an diesem Abend, bei dem ihn erst Josip Juranovic, dann Borna Sosa aufhalten wollten. Alvarez aber marschierte einfach weiter. „Ich freue mich persönlich und für die Gruppe“, sagte er. „Wir müssen uns ausruhen, wir hoffen auf ein großartiges Spiel am Sonntag.“ Sein Heimatort Calchin müsse wie das ganze Land beim Finale verrücktspielen. „Wir freuen uns über das, was wir erreicht haben, und wir streben nach mehr.“
Geboren wurde Alvarez in Calchin, das zur Provinz Cordoba gehört und mitten in Argentinien liegt. Landwirtschaft prägt diese Region. 2016 gelang ihm der Sprung in die Jugend von River Plate, einer der berühmtesten Klubs des Landes. 2018 kletterte er hoch zu den Profis. Anfang 2022 wurde Manchester City auf den Angreifer aufmerksam, sicherte sich seine Dienste, verlieh ihn allerdings noch für ein halbes Jahr an River Plate. Im Sommer wechselte Alvarez schließlich nach England, also genau zu dem Zeitpunkt, zu dem sich auch ein anderer bemerkenswerter Stürmer in Manchester vorstellte: Erling Haaland. In der Premier League steht der Argentinier deswegen im Schatten des Norwegers, der zuvor schon bei Borussia Dortmund kaum aufzuhalten war, sich mit seinem Land jedoch nicht für die Weltmeisterschaft 2022 qualifiziert hat.
Alvarez nutzt das Vertrauen von Trainer Lionel Scaloni
In Katar nutzt nun Alvarez das Vertrauen, das ihm Trainer Lionel Scaloni schenkt. „Er hat einen besonderen Fußball gezeigt, das ist in seinem Alter nicht normal“, sagte Scaloni nach dem Schlusspfiff über seinen Spieler. „Er gibt alles auf dem Platz. Er macht das, was man ihm sagt. Und er hat Tore geschossen, dies ist etwas Tolles gerade für einen Stürmer.“
Dabei saß Alvarez in den ersten beiden Spielen der Argentinier nur auf der Bank, erst im letzten Gruppenspiel gegen Polen (2:0) rutschte er in die Startelf und bedankte sich sofort mit einem Tor. Seitdem ergänzt er die Offensive neben Lionel Messi, stürzt sich in Zweikämpfe, arbeitet nach hinten, wenn sich der sechsmalige Weltfußballer ausruhen muss. Genannt wird Alvarez „El Arana“, die Spinne, weil seine Dribblings wie auch beim 2:0 gegen Kroatien manchmal so wirken, als hätte er acht Beine.
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„Julian war heute herausragend“, meinte Lionel Messi. „Er hat uns den Weg geebnet. Er hat gekämpft, er ist gerannt, er hat getroffen. Ich denke, er war extrem wichtig, wie er es während der gesamten Weltmeisterschaft schon ist.“
Messi bestätigt: Diese WM wird seine letzte sein
Die argentinische Auswahl hat sich auf eine Art und Weise gefunden, wie es kaum zu erwarten war. Die Jungen arbeiten für Messi. Und der bereits 35-jährige Ausnahmefußballer hat sich noch einmal auf ein Niveau gehievt, auf dem ihn bislang niemand stoppen kann. Diese WM werde seine letzte sein, das bekräftigte Messi noch einmal nach dem Schlusspfiff. „Es sind vier Jahre bis zur nächsten WM, und ich glaube nicht, dass es für mich reichen wird. Auf diese Art und Weise das Ganze zu beenden, ist das Beste“, meint er. „Ich beende meine WM-Reise, indem ich mein letztes Spiel in einem Finale bestreite. Alles, was ich bei dieser WM erlebt habe, ist sehr aufregend, sowohl was die Fans hier erleben, als auch wie es die Menschen in Argentinien genießen.“
Julian Alvarez hat hier in Katar eine Anekdote aus England erzählt. An einem seiner ersten Tage in Manchester hätten die portugiesischen Nationalspieler Ruben Dias, Bernardo Silva und Joao Cancelo gemeinsam mit Trainer Pep Guardiola über die kommende Weltmeisterschaft und mögliche Titelkandidaten geredet, berichtete Alvarez. Er selbst habe nichts gesagt, weil er noch neu gewesen sei. Die Portugiesen glaubten an den Erfolg einiger europäischer Länder oder an Brasilien. Guardiola aber sei extra zu Alvarez gegangen, um ihm zu sagen, dass Argentinien eine sehr gute Mannschaft habe.
Am Sonntag kann das Land Weltmeister werden.