Oberstdorf. Karl Geiger hatte es sich gar nicht erst gemütlich gemacht in der Leaderbox im Auslaufbereich der Schattenbergschanze. Schließlich ist der 26-Jährige ohnehin in Oberstdorf zu Hause, auch wenn sein Bett derzeit in einem Hotel steht.
Also zog sich Geiger schon um, entledigte sich der klobigen Schuhe, die Skier nebenan abgestellt – ganz so, als ahnte er bereits, was noch kommen würde. Denn er wusste, wer da noch kommen würden: Ryoyu Kobayashi, Grand-Slam-Sieger der letzten Vierschanzentournee und auch diesmal wieder das Maß aller Dinge.
Der 23 Jahre alte Japaner erwies sich wie schon 2018 als Partyschreck der wild ihre Fähnchen schwenkenden deutschen Fangemeinde. 138 und 134 Meter genügten Kobayashi für 305,1 Punkte und zum Auftaktsieg der 68. Tournee.
Eisenbichler als zweitbester Deutscher auf Rang elf
Die 25.500 Zuschauer waren Minuten zuvor noch der Ekstase nahe: Geiger, ihr local hero, hatte dem Druck Stand gehalten. Der Oberstdorfer segelte nach 135 Metern im ersten Durchgang noch mal auf 134 Meter hinunter (295,9 Punkte) auf Rang zwei. Dritter wurde der Pole Dawid Kubacki (294,7).
Geiger war selbst aus dem Häuschen, ballte die Hände zu Fäusten, schrie die Erleichterung heraus. Zu extremen Gefühlsausbrüchen neigt er sonst nicht – diesen Part übernahm der sportlich wieder auferstandene Markus Eisenbichler.
Der dreifache Weltmeister von Seefeld war zwar nach schwierigen Bedingungen noch von Platz fünf auf Platz elf (277,8) zurückgefallen, ging jedoch beim neuerlich weiten Satz seines Zimmerkollegen völlig mit. „Nach zwei so guten Sprüngen bin ich megahappy“, erklärte Geiger, nachdem er die Gratulationen des Tagessiegers entgegengenommen hatte und sich vor diesem landestypisch sogar ein wenig verneigte.
Sieben von neun Deutschen erreichen zweiten Durchgang
Mit zweien unter den besten Zehn wurde Stefan Horngachers Ziel zwar nicht ganz erreicht. Dennoch war der neue Bundestrainer mit dem Auftakt äußerst zufrieden: „Es hat super funktioniert, Karl hat zwei supergute Sprünge gemacht, Kobayashi ist aber wunderbar geflogen.“ Sieben von neun DSV-Adlern erreichten den zweiten Durchgang. Der sprichwörtliche Aufwind zum Auftakt der Tournee kommt auch für Horngacher genau zur richtigen Zeit.
Von dem 50 Jahre alten Tiroler wird nicht weniger erwartet, als mindestens so erfolgreich die Arbeit von Werner Schuster fortzusetzen. „Unser Vorteil diesmal ist“, sagt Horngacher, „wir können nur gewinnen.“ Er hat nicht gesagt: Wir haben nichts zu verlieren. Genau das macht die gemeinsame Arbeit aus.
„Ich habe ja den Luxus, dass ich mehr oder weniger in jedem Training mit Stefan zusammenarbeite“, sagt der inzwischen permanent in Hinterzarten stationierte Willinger Stephan Leyhe, der nach dem starken dritten Platz in der Qualifikation und mittelprächtiger Weite im ersten Durchgang diesmal mit Rang 13 zufrieden sein musste.
„Er will, dass ich bei jeder Kniebeuge einfach Vollgas gebe.“ Markus Eisenbichler erklärt, er verliere trotz seiner sensiblen Art durch die immer positive Ansprache Horngachers nie den Mut: „Er gibt mir Selbstvertrauen wieder. Ich hab’s ja nicht ganz verlernt.“
Bundestrainer Horngacher sieht in Geiger größtes Potenzial
Am meisten Potenzial sieht der Österreicher Horngacher derzeit aber in Geiger. „Steff hat eine sehr klare Linie. Wir brauchen da den Input, weil wir neue Herangehensweisen haben.“ Die neuen Abläufe unmittelbar vor dem Wettkampf, mit denen sich die Springer besser fokussieren können, funktioniert nach dem insgesamt schleppenden Saisonstart des deutschen Teams so gut, dass Horngacher den Oberstdorfer kurz davor sieht, das nächste Level zu erreichen.
Nämlich bei der Tournee nicht sich über die Plätze 35 und 20 auf zehn zu steigern, sondern gleich in den Top Ten anzufangen, sich am Mittwoch in Garmisch-Partenkirchen und am Sonnabend in Innsbruck so gut zu halten, „dass er in Bischofshofen auf Platz eins aufhört.“
Horngacher ist nicht der einzige, der an Geiger glaubt und ihn als ernsthafte Konkurrenz zu Kobayashi sieht. „Wenn Karl das durchzieht, kann er die Tournee gewinnen“, sagte Ex-Trainer Werner Schuster beim Auftakt in Oberstdorf. Karl Geiger vermittelt derzeit jedenfalls nicht den Eindruck, als würde er nicht selbst daran glauben.