Hamburg. Man wird besonders auf ihn schauen, wenn am Donnerstag die Handball-Weltmeisterschaft in Berlin beginnt. Das weiß Uwe Gensheimer. Einen Vorgeschmack erhielt er vergangene Woche in Hamburg: Fernsehkameras waren auf den Kapitän der Nationalmannschaft gerichtet, Fotografen umrundeten ihn, und Reporter stellten ihm Frage nach Frage. Gensheimer beantwortete sie alle beim Medientag der deutschen Handballer im Steigenberger Hotel Treudelberg. Mal lächelte er dabei, mal wurde seine Miene ernster. Er versicherte, fokussiert zu sein. Alles zu geben in diesem Turnier der Weltbesten, das in Deutschland und Dänemark gespielt wird, das die deutsche Mannschaft im Erfolgsfall nach der Vorrunde in Berlin weiter nach Köln (Hauptrunde) und Hamburg (Halbfinale) führen wird. Das Traumziel: Herning in Dänemark, Austragungsort des Endspiels.
Doch zu viele Träumereien gestattete sich der 32 Jahre alte Gensheimer nicht. „Halbfinale. Selbst das ist vielleicht noch einen Schritt zu weit gedacht.“ Denn nach der Vorrunde warten „in der Hauptrunde dann auch harte Brocken“, sagt Gensheimer. „Da entscheiden Kleinigkeiten über Sieg und Niederlage. Aber logisch: Wir alle wollen ins Halbfinale und zurück nach Hamburg.“ Es herrscht Euphorie angesichts der Erinnerung an die Weltmeisterschaft 2007, an diesen legendären Triumph der Mannschaft von Bundestrainer Heiner Brand und dem damit einhergehenden Wissen, dass der Heimvorteil sportlich beflügeln kann. Doch ein Stück verhalten ist der Optimismus trotzdem. Die misslungene Europameisterschaft mit dem Hauptrunden-Aus vor einem Jahr unter dem damals neuen Bundestrainer Christian Prokop ist noch zu präsent in den Köpfen. Und damit auch das Scheitern von Kapitän Gensheimer.
Der 32-Jährige ist der einzige im Team, der im Ausland spielt
„Abgeschlossen“ hat er damit, betont der gebürtige Mannheimer. „Ich habe es damals nicht geschafft, auf dem höchsten Level wie zuvor im Verein zu spielen. Als Mannschaft haben wir das nicht geschafft. Aber ich bin optimistisch, dass das nicht noch einmal passieren wird.“ Warum? Die Stimmung im Team sei besser, die Torgefahr wieder da, die Abwehr gewohnt aggressiv, meint der Nationalspieler. „Es läuft gut im Training.“
Gut lief es zuletzt auch in seinem Verein. Gensheimer ist der einzige deutsche Nationalspieler, der für einen ausländischen Spitzenklub spielt. Für das millionenschwere Paris St. Germain. Ungeschlagener Tabellenführer in Frankreich und Tabellenführer der Champions-League-Vorrundengruppe B – mit nur einer Niederlage aus insgesamt zehn Spielen.
Beim Titelgewinn 2016 musste er verletzt zuschauen
Gensheimer ist treffsicher, Gensheimer ist in guter Form. Der sprunggewaltige Kapitän ist für Stefan Kretzschmar, seinen legendären Vorgänger auf der Außenbahn, sogar „der beste Linksaußen seiner Generation“. Schon während seiner Bundesligazeit bei den Rhein-Neckar Löwen schien er physikalische Gesetze auszuhebeln, wenn er den Ball mit Effet um den Torwart drehte und mit seinem scheinbar aus Gummi bestehenden Handgelenk eine erstaunliche Anzahl an Wurfvarianten anwendete.
Doch wenn der ehemalige Fußball-Nationalmannschafts-Kapitän Michael Ballack angesichts fehlender internationaler Triumphe als unvollendet bezeichnet wird, dann trifft dies im Handball auch auf Uwe Gensheimer zu. Auf den ganz großen Bühnen erzählten seine Gesichtsausdrücke unmittelbar nach Spielende ganze Geschichten. EM 2016: freudig, aber mit einem Hauch Melancholie versehen. Deutschland war in Polen Europameister geworden, doch Kapitän Gensheimer musste den Spielen verletzt von der Tribüne aus zusehen. WM 2017: unendlich traurig. Kurz vor dem Turnierstart in Frankreich war Gensheimers Vater Dieter gestorben. Im Achtelfinale war das Turnier schließlich beendet. Champions-League-Finale 2017: fassungslos. In letzter Sekunde fiel der Treffer zur 23:24-Niederlage gegen den mazedonischen Topklub Vardar Skopje. Gensheimer kochte: „Es ist zum Kotzen.“
2018 war er bester Werfer in der Champions League
EM 2018: müde. Als letzter Spieler checkte er nach dem Hauptrunden-Aus aus dem Hotel in Kroatien aus. Während des Turnierverlaufs hatte Gensheimer zunehmend in sich gekehrt gewirkt, seine Fehlwurfquote war ungewohnt hoch, als Führungsfigur war er kaum präsent. Champions-League-Finale 2018: frustriert. Den Titel als bester Torschütze der Königsklasse nannte er angesichts des Halbfinal-Aus gegen den französischen Ligakonkurrenten HBC Nantes abwinkend einen „Trostpreis“.
Nun also die Weltmeisterschaft im eigenen Land. „Wir müssen versuchen, eine Euphorie wie 2007 zu entfachen“, sagt Gensheimer. Mit den Länderspielerfolgen gegen Tschechien (32:24) am Freitag und gegen Argentinien (28:13) am Sonntag ist ein recht überzeugender Anfang gemacht. Am Donnerstag ist der Testlauf vorbei, dann schaut Deutschland auf seine Handballer - und besonders auf deren Kapitän.