Dortmund. Der Anschlag? Ernsthaft? Schon wieder? Nuri Sahin kann es nicht mehr hören. Er verdreht genervt die Augen, er brummt einen ablehnenden Satz, dreht ab, dann ist der Mittelfeldspieler von Borussia Dortmund verschwunden. Am Mittwoch sind die dramatischen Sekunden des Bombenattentats auf die BVB-Mannschaft ein Jahr her - mit der Aufarbeitung hat der Verein weiterhin zu kämpfen.
"Ich kenne Spieler, die noch immer darunter leiden. Das war ein Anschlag auf das Leben", sagte Torhüter Roman Weidenfeller im Prozess gegen Sergej W., der gestanden hat, am 11. April 2017 drei Sprengsätze neben dem Mannschaftsbus gezündet zu haben. "Das hat mein Leben verändert", sagt Weidenfeller. Er nehme seitdem psychologische Hilfe in Anspruch: "Man ist immer noch betroffen, immer noch schreckhaft."
Platzt irgendwo ein Luftballon, rollt unerwartet ein Bus heran, muss mal wieder zum Stadion gefahren werden - dann sind die Bilder wieder da. Kapitän Marcel Schmelzer berichtete, er zucke heute noch bei lauten Geräuschen zusammen. "Ich habe die Angst in den Gesichtern gesehen. Ich versuche, es wegzuschieben. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen man denkt, was für ein Glück wir hatten."
Sergej W. bestreitet vor dem Dortmunder Landgericht weiter jegliche Tötungsabsicht. Sein Motiv soll Habgier gewesen sein, mutmaßlich wollte er mit kreditfinanzierten Put-Optionen nach seiner Tat am sinkenden Kurs der BVB-Aktie verdienen. Die Staatsanwaltschaft wirft W. unter anderem versuchten Mord in 28 Fällen vor. Der ehemalige Innenverteidiger Marc Bartra hatte einen Armbruch und Fremdkörpereinsprengungen erlitten, ein begleitender Polizist ein Knalltrauma.
Dies waren nur die unmittelbaren körperlichen Folgen eines Tages, der alle Spieler und den gesamten Verein tief erschüttert hat. Die psychischen sind immer noch zu spüren. "Wir müssen das irgendwie verarbeiten", sagte Sportdirektor Michael Zorc nach dem Sieg gegen den VfB Stuttgart (3:0) am Sonntag. "Durch die Gerichtstermine kam natürlich einiges wieder hoch."
Spieler haben Schlafprobleme
Mehrere Spieler berichteten im Zeugenstand von ernsten Schlafproblemen. Die Frage, inwiefern der Anschlag ein Jahr danach für sportliche Probleme verantwortlich zu machen ist, bleibt schwierig zu beantworten. Auffällig ist: Die Mannschaft fällt bei geringsten Rückschlägen wie ein misslungenes Soufflee in sich zusammen - fällt aber ein Glückstor, kann sie plötzlich spielen wie Bayern München.
Kein Wunder: Den Verein hatte es in der Folge des Attentats fast zerrissen. An der Frage, ob es richtig war, die Mannschaft schon am Tag nach der Todesangst wieder in der Champions League gegen den AS Monaco antreten zu lassen, entzündete sich ein Streit zwischen Trainer Thomas Tuchel und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke (der nicht im Bus saß), an dessen Ende Tuchel gehen musste.
Tuchel war selbst vor Gericht als Zeuge geladen - und im Gegensatz zu Pierre-Emerick Aubameyang, der sich mit einer halbgaren Entschuldigung abgemeldet hatte, erschien er auch. Er leide an keinen körperlichen oder psychologischen Spätfolgen, erklärte Tuchel, allerdings sei seiner Ansicht nach der Anschlag ein Grund für seine Entlassung. "Davon würde ich ausgehen", sagte er auf die Frage, ob er ohne das Trauma vom 11. April über den Sommer hinaus BVB-Trainer geblieben wäre.
Marc Bartra, der einzige beim Angriff verletzte Spieler, ist in seine Heimat zurückgekehrt. Er spielt inzwischen beim FC Sevilla, zwischen ihm und den Dortmunder Fans ist im Nachgang des Anschlags eine einmalige Verbindung entstanden. "Ich hatte Todesangst und Angst, meine Familie niemals wiederzusehen", sagte der Innenverteidiger mit leiser Stimme. "Ich bin nur froh, noch am Leben zu sein."
Medienbericht: Tuchel geht für zwei Jahre nach Paris