Leichtathletik

Hoppla, jetzt kommt Gina Lückenkemper

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Melanie Meyer
Gina Lückenkemper zeigt ihr Tattoo: Leichtathletik ist olympische Kerndisziplin. Damit es so bleibt, braucht sie Typen wie die Sprinterin

Gina Lückenkemper zeigt ihr Tattoo: Leichtathletik ist olympische Kerndisziplin. Damit es so bleibt, braucht sie Typen wie die Sprinterin

Foto: Michael Kappeler / dpa

Nach Robert Hartings Abtritt soll Sprinterin Lückenkemper das Gesicht der deutschen Leichtathletik werden. Noch traut sie sich nicht.

Berlin.  Es ist nur eine kurze Szene. Jürgen Kessing, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, wird nach Robert Har­ting gefragt. Danach, wer denn nun Nachfolger des Diskusstars werden kann, der jahrelang die deutsche Leichtathletik prägte und sich nun bei der Europameisterschaft in seiner Heimat Berlin von der großen Bühne verabschieden will. Noch bevor Kessing antworten kann, rührt sich die junge Frau auf dem Stuhl neben ihm. Sie grinst, zeigt mit dem Finger kurz auf sich. Es ist nur ein winziger Moment, ein Scherz, ein Augenzwinkern. Sie meint es nicht ernst. Doch man weiß: Es ist lustig, weil es wahr ist.

Sie lässt kaum einen PR-Termin aus

Die junge Frau neben dem DLVChef ist Gina Lückenkemper. Die 21 Jahre alte Sprinterin ist vielleicht noch nicht das Gesicht der deutschen Leichtathletik, ein Gesicht dieser EM ist sie aber allemal. Auf jeder Pressekonferenz ist sie dabei, auf jedem Werbetermin. In Berlin will sie zu zwei Medaillen sprinten – am Dienstag über 100 Meter und am Sonntag mit der Staffel. In der Stadt hängen genauso Plakate von ihr wie von Harting. Zwar wird noch kein Hochhaus am Breitscheidplatz verziert, aber die Frage liegt nahe: Wird Gina der neue Robert?

Jürgen Kessing bleibt seinem Amt entsprechend diplomatisch. „Robert wird eine Lücke hinterlassen. Es wird genügend Typen geben, die in seine Rolle hineinwachsen werden.“ Eine Lücke für Lückenkemper? Es gibt noch andere Kandidaten. Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz zum Beispiel, Hindernis-Läuferin Gesa Felicitas Krause oder Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler. So sagt Kessing: „Eine, die es werden kann, sitzt neben mir.“ Er traut Gina Lückenkemper Großes zu. Damit ist er nicht allein.

Fast 90.000 junge Menschen folgen ihr bei Instagram

Seit ihrem Auftritt 2017 bei der WM in London ist Lückenkemper ein aufgehender Stern. Als erste Deutsche seit 26 Jahren lief sie die 100 Meter unter elf Sekunden – die Uhr blieb damals bei 10,95 Sekunden stehen. Nur sechs Deutsche waren zuvor schneller oder genauso schnell wie die junge Frau aus Soest in Westfalen. Allen wurde Doping nachgewiesen. Lückenkemper kann das Licht am Ende einer dunklen Episode dieser Disziplin sein. Kessings Amtsvorgänger Clemens Prokop sieht sie daher als eine Athletin, „die mit Persönlichkeit, sportlicher Leistung und noch größerem Potenzial auf sich aufmerksam macht“.

Das Interesse an der ausgelassenen jungen Frau ist seit London immens. Sogar Kessing berichtet, wie ihn in seinem Amt als Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen Kinder nach Autogrammen von Gina Lückenkemper fragen. „Weil die so toll laufen kann.“ Sie ist ein Vorbild. Allein im sozialen Netzwerk Instagram verfolgen fast 90.000 zumeist jüngere Menschen, was die Sprinterin aus ihrem Alltag preisgibt.

Gesicht einer Sportart zu sein, kostet viel Kraft

Die Studentin der Wirtschaftspsychologie ist schlau genug, um diese Aufmerksamkeit zu nutzen. Sie weiß, dass man nicht automatisch Beachtung erfährt, nur weil man schnell rennt. Sie bringt alles mit, was man braucht, um aufzufallen: Sie ist schnell, sie sieht gut aus, und sie ist nicht auf den Mund gefallen. Mit teils derber, dafür sehr authentischer Wortwahl spricht sie Dinge an, die sie, die auch andere Leichtathleten stören. „Ich habe kein Problem damit, meine Meinung zu sagen“, sagt sie. „Aber ob ich das in dem Umfang machen möchte wie Robert? Das weiß ich noch nicht.“

Harting stand in seiner Karriere immer für mehr als für einen Olympiasieg, drei WM- und zwei EM-Titel. Er hat sich stark gemacht im Anti-Doping-Kampf, hat sich quer gestellt, sich mit wichtigen Funktionären angelegt und mit der Sportlotterie sogar aktiv (und doch eher erfolglos) versucht, etwas an den schwierigen finanziellen Bedingungen in der deutschen Leichtathletik zu verändern. Er hat viel investiert und weiß daher genau: Es kostet Kraft, das Gesicht seiner Sportart zu sein. „Diese enorme mediale Aufmerksamkeit ist auch eine extreme mentale Belastung“, sagt Gina Lückenkemper. „Ich weiß nicht, ob ich mir das schon zutrauen würde.“

Schon mit 21 Jahren sehr professionell

Eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn man mit seinen Aussagen auch mal Gegenwind erzeugt, bekam sie vor wenigen Tagen in Kienbaum. Dort beklagte sie sich darüber, dass von der deutschen Meisterschaft in Nürnberg kaum Bilder im TV zu sehen waren, dass nicht einmal der Live-Stream im Internet richtig funktionierte. Später wurde sie dafür kritisiert. Das Argument: Sie solle erst einmal einen großen Titel gewinnen, bevor sie solche Forderungen stelle.

Man weiß nicht, wie sehr Gina Lückenkemper solche Reaktionen an sich heranlässt. Sie wirkt so stark, sagt, dass sie äußere Erwartungen nicht interessieren. Doch was man bei ihr schnell vergisst, eben weil sie so professionell, so erfahren auftritt: Sie ist erst 21 Jahre alt. „Ich stehe noch immer am Anfang meiner Karriere“, sagt sie und wirkt dabei selbst ein bisschen verblüfft. Zur Erinnerung: Sie war gerade einmal 19 Jahre alt, als sie vor zwei Jahren EM-Bronze über 200 Meter gewann.

Ob Gina der neue Robert wird? Die Antwort wird die Zeit geben. Nicht nur die, die in Berlin gestoppt wird.