Leben

Die Legende des Küssens: Kurioses und Wissenswertes rund ums Thema

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Warum Jean Claude Juncker als Chefküsser gilt, wie der sozialistische Bruderkuss entstanden ist und was uns ein Handkuss sagen will

Küssen mit den Römern Die Römer kannten drei Küsse: Osculum war der ritualisierte Kuss innerhalb der Familie, Basium der Freundschaftskuss und Suavium der erotische Kuss. Römische Väter forderten Ungeküsstheit für ihre Töchter als Teil der Jungfräulichkeit bis zur Heirat. Mit dem Hochzeitskuss wurde die Ehe besiegelt, mit dem Verlobungskuss versprochen. Das „Kussrecht“ regelte den Schaden, der durch den ersten Männerkuss entstand, weil die Keuschheit vermindert wurde. Zum Beispiel bekam die Verlobte die halbe Erbschaft, falls der Bräutigam vor der Hochzeit starb.

Lernen mit dem Kamasutra Das berühmte indische Lehrwerk der Erotik und Liebe, das Kamasutra, kennt über 30 Kussarten. Die Küsse werden in gemessene, zuckende und stoßende Mädchenküsse unterteilt. Dabei können sich die Lippen gleich, schräg oder irrend umfassen. Die Lippen pressen aufeinander und die Zungenspitze kann folgen, sogar kämpfen. Auch Zähne, Gaumen und Zunge des Partners werden berührt. Aus den Kombinationen und Stellungen ergeben sich die zahlreichen Kussarten. Wichtig ist die Gegenseitigkeit: Kuss um Kuss.

Demut und Dankbarkeit Der Handkuss war seit den Römern eine Demutsgeste von Untergebenen, um Dankbarkeit auszudrücken. Später küsste man den Ring von Würdenträgern. Und schließlich küsst der Kavalier die Dame auf die Hand oder deutet den Kuss an. Heute noch begrüßt Prinz Charles zumindest bei offiziellen Anlässen seine Mutter mit einem Handkuss. Bei der Krönungszeremonie von Elisabeth II. war es hingegen anders. Mitglieder der königlichen Familie durften sie auf die linke Wange küssen, Adlige auf die rechte Hand. Für den Philosophen Kierkegaard dient der Handkuss Eheleuten, die sich indifferent sind, lediglich einem Zweck: um sich in Ermangelung einer Serviette den Mund abzuwischen.

Schnäbeln wie die Vögel Der romantische Liebeskuss wird auch tiefer Kuss, Seelenkuss, Französischer Kuss oder Taubenkuss und Schnäbeln genannt. Das Schnäbeln der Tauben und Krähen erinnert an das Küssen. Krähen lassen sich nach einem Streit von ihren Lebenspartner mit einem Kuss trösten. Sie leben wie Tauben vorwiegend monogam. Dass die Bezeichnung Krähenkuss eher unüblich ist, liegt wohl an der etwas unheimlichen Erscheinung der Tiere.

Goethe und die Bienen Für Goethe waren Liebeskuss und Bienenschwarm einen Vergleich wert. „Saugen, schweben, wieder saugen und lieblicher Ton“, schrieb er. Über den Kuss oder den Bienenschwarm?

Fatale Küsse Um die vorletzte Jahrhundertwende wurde der Kuss für die Bildende Kunst interessant. Den Auftakt machte Auguste Rodin mit seiner berühmten Plastik „Der Kuss“. Dabei soll er ein berühmtes Liebespaar vor Augen gehabt haben: die Ehebrecher Paolo und Francesca, die zu einem ewigen Kuss in Dantes Hölle verdammt waren. Auslöser für ihren ersten, verhängnisvollen Kuss war ein weiterer verbotener Kuss der Weltliteratur, der zwischen Lanzelot und König Artus’ Gattin Guinevere. Dieser wiederum löst eine Reihe von Ereignissen aus, die schließlich das Ende von König Artus und seiner Tafelrunde besiegelten.

In Liebe verschmolzen Eine weitere berühmte Kussdarstellung kommt aus Wien. Sie stammt von Gustav Klimt aus seiner goldenen Phase und zeigt gar keinen richtigen Kuss zwischen Liebenden. Das Paar scheint zwar verschmolzen, aber der Mund der Frau küsst nicht. Die Darstellung traf den Geschmack der höchsten Wiener Kreise und wurde 1908 noch vor Fertigstellung vom kaiserlich-königlichen Kulturministerium für 25.000 Kronen erworben.

Japanische Warnung Der Zungenkuss vor dem Orgasmus soll vermieden werden, lautet eine Weisheit aus Japan. Die Frau könnte sonst die Zungenspitze abbeißen.

Politische Busselei Der Präsident der Europäischen Kommission Jean Claude Juncker gilt heute als Chefküsser unter den Politikern. Weil er so viel Besuch hat, gibt es viele Kussfotos. Berühmt ist sein filmreifer Kuss mit der IWF-Chefin Christine Lagarde. Für das Motiv von Vorteil: Sie sitzt, er steht, so schmachtet es sich besser. Die Kusstechnik des frisch gewählten österreichischen Kanzlers Kurz scheint dagegen weniger gekonnt. Er duckte sich kurz vor dem Kuss zur Seite.

Frieden unter Brüdern Der Bruderkuss sozialistischer Politiker geht auf den Friedenskuss der Frühchristen zurück. Diese haben sich ursprünglich auf den Mund geküsst. Der Kuss galt als Siegel für die Gemeinschaft mit Christus. Aber schon bald regte sich Kritik, weil das Mundküssen unkeusche Züge annahm. Zunächst wurde der Kussritus nach Geschlechtern getrennt, dann durfte man sich nur mehr nach einem Gebet auf den Mund küssen. Aber auch das geriet aus dem Ruder. Die Lösung war ein indirekter Kuss auf ein Täfelchen, das weitergegeben wurde. Später wurde es durch eine Reliquie ersetzt. Wenn man Glück hatte, musste man nur ein Stück Stoff vom Gewand der Heiligen Drei Könige küssen und nicht den Handknöchel eines Heiligen.

Allergrößte Verehrung Erhalten hat sich die Praxis, eine Reliquie zu küssen, im Adorationskuss. In Neapel zum Beispiel wird die Reliquie geküsst, die das Blut des Heiligen Gennaro birgt. Und natürlich beim Hochhalten der Trophäe nach dem Sieg in der Fußballweltmeisterschaft. Jeder Spieler küsst den Pokal. So wie einst in Agrigent in Sizilien eine Herkulesstatue aus Bronze geküsst wurde, so sehr, dass Kinn und Lippen ganz abgerieben waren. Man versprach sich davon wohl Stärke.

Kollektives Küssen Jedes Jahr anlässlich des internationalen Kusstages am 6. Juli wird zum kollektiven Küssen aufgerufen. In Berlin regte kürzlich das Künstlerduo Römer + Römer eine „Knutschperformance“ an. Anlass war die Ausstellung „Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“ im Bröhan Museum. In allen Räumen des Museums wurde geküsst.

Berlin: Stadt der Männerküsse Der berühmte Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker, im Original ein Foto des Pressefotografen Régis Bossu, an der East Side Gallery ist eine Ikone. Etwas subtiler ist das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen. In einer Fensteröffnung gibt es einen Schaukasten, der eine Videosequenz mit sich küssenden Männern zeigt.

Küssen heute Der in München lebende Leander Steinkopf, Jahrgang 1985, fasziniert Rezensenten mit seiner Beschreibung eines Kusses: Die Umarmung geht über in ein Küssen, „und sie wird mit ihrer Zunge mechanisch in seinem Mund herumwühlen, wie ein Bagger, der eine Grube aushebt“. Utta Raifer