Leben

Mit Artistik Kompetenzen entdecken

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Sabine Flatau

Im Circus Sonnenstich trainieren Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom – seit nunmehr 20 Jahren

Seit 20 Jahren gibt es den Circus Sonnenstich in Berlin. Zum Jubiläum bereiten die Artisten eine neue Aufführung vor. Premiere ist Anfang Juni im Admiralspalast. „Wabi-Sabi“ heißt das Stück, benannt nach einem ästhetischen Konzept aus Japan. Viele Shows haben die Künstler vom Circus Sonnenstich in den vergangenen 20 Jahren gezeigt, darunter im Wintergarten und im Theater Chamäleon. Sie jonglieren mit Bällen und Diabolos, sie schwingen am Trapez und laufen auf Kugeln. Sie gehen auf Händen und wiegen sich auf dem Balanciergerät Rola-Bola hin und her. Manche Kunststücke zeigen sie solo, andere Tricks zu zweit oder als Team. Allen Artisten gemeinsam sind Hingabe und Konzentration. Und das Down-Syndrom.

„Menschen mit Down-Syndrom werden oft als behindert angesehen“, sagt Michael Pigl-Andrees. Er ist Sozialpädagoge und Gründer des Circus Sonnenstich. „Jeder Mensch soll durch Inklusion die Möglichkeit haben, seine eigene Art leben zu können und damit seine Kompetenzen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen“, meint der 50-Jährige. „Bei uns geschieht das mit künstlerischen Mitteln.“ Pigl-Andrees ist auch im Vorstand des Vereins „Zentrum für bewegte Kunst“. Dieser Verein, ein freier Träger der Kinder- und Jugendarbeit, betreibt das Zirkusprojekt „in einer wunderbaren Teamarbeit“, sagt Pigl-Andrees. Im Team sind auch seine Partnerin Anna-Katharina Andrees und der Physiotherapeut Felix Häckell.

Das Training stärkt das Selbstbewusstsein und verhilft zu neuen Lebenszielen

50 Artisten im Alter von zehn bis 34 Jahren gehören zum Circus Sonnenstich, dazu acht Trainer. Kinder, Jugendliche und Erwachsene trainieren zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten. Jannic Golm aus Zehlendorf ist seit 2009 dabei. Vor Kurzem ist der 26-Jährige sogar Mitarbeiter im „Zentrum für bewegte Kunst“ geworden. Früher arbeitete er fünf Tage in der Woche in einer Werkstatt für Behinderte, jetzt nur noch an einem Tag. An vier Arbeitstagen ist er Assistenztrainer in den Kinder- und Jugendgruppen des Circus Sonnenstich, in einem Schulprojekt und in der inklusiven Weiterbildung des Vereins. „Für Kinder mit Behinderung, die er unterrichtet, ist er das große Vorbild“, sagt Michael Pigl-Andrees. Auch andere Artisten im Circus Sonnenstich möchten Trainer werden. „Wir versuchen, das Stück für Stück umzusetzen und Arbeitsplätze zu schaffen.“

Der Sozialpädagoge ist begeistert davon, wie sich Jannic Golm gewandelt hat. „Er hat einen enormen Sprung gemacht.“ Sein Selbstbewusstsein sei gewachsen. Auch die Physiognomie habe sich entwickelt. „Er wirkt jünger und weicher“, sagt Pigl-Andrees. „Man spürt seine Emotionalität.“ Als Jannic Golm zum Circus Sonnenstich kam, fiel es ihm schwer, sein Down-Syndrom zu akzeptieren. Doch andere Artisten sagten zu ihm: „Das ist nicht schlimm. Wir haben das auch.“

So wie Jannic Golm entwickeln sich auch die anderen jungen Leute bei Circus Sonnenstich. Die Kurse sind weit mehr als bloßes Körpertraining. „Wir machen eine Lebensweg-Begleitung“, sagt Michael Pigl-Andrees.

Sarah Walther (19) aus Pankow trainiert seit sechs Jahren. „Sie liebt alles im Circus, besonders Akrobatik, Trapez und die Laufkugel“, sagt Pigl-Andrees. Die junge Frau habe „unglaublichen Mut und unglaubliches Körperbewusstsein“. Früher sei sie sehr schüchtern gewesen. Doch vor drei Jahren habe Sarah gesagt: „Ich möchte als Artistin auf großen Bühnen stehen.“ Bei der Premiere der neuen Show im Admiralspalast im Sommer hat sie Gelegenheit dazu. Außerdem sucht Pigl-Andrees für sie einen professionellen Artisten als Partner, mit dem sie trainieren und auftreten kann. Solche Tandems gibt es bereits bei Sonnenstich. Zum Beispiel tritt Christian Wollert, seit 20 Jahren beim Circus, mit der Handstand-Akrobatin Estrella Urban auf. „Sie sind ein wunderbares Team“, schwärmt Michael Pigl-Andrees. „In den Tandems geht es nicht nur um artistische Höchstleistungen“, sagt er. „Sondern um das Zusammenspiel. Das ist auch für die Profi-Artisten eine neue Erfahrung.“

Am Donnerstagnachmittag ist Trainingszeit für die jungen Erwachsenen unter den Sonnenstich-Artisten. Drei Stunden lang. Einer nach dem anderen trifft in der Turnhalle der Helene-Haeusler-Schule in Prenzlauer Berg ein. Jeder sucht sich ganz selbstverständlich das Gerät, an dem er gerade arbeitet, und beginnt zu üben: mit der Laufkugel, dem Diabolo, dem Trapez oder Rolle und Brett für Rola-Bola. Wenn alle da sind, gibt es zunächst eine Begrüßungsrunde. Artisten und Trainer sitzen im Kreis auf der großen Matte. Jeder sagt kurz, wie es ihm geht und was er vorhat. Dann beginnen gemeinsame Übungen zum Aufwärmen und zum Dehnen. Anschließend wird gezielt trainiert, um die große Jubiläums-Show im Sommer vorzubereiten.

Die Jubiläumsshow im Admiralspalast erzählt eine Geschichte voller Atmosphäre

Inszeniert wird sie von Anna-Katharina Andrees (40), Schauspielerin und Theaterpädagogin. Sie gehört seit zwölf Jahren zum Sonnenstich-Team. Die Vorstellung im Admiralspalast, die sie jetzt vorbereitet, sei vom Genre „Neuer Zirkus“. Keine Aneinanderreihung von Programmnummern, sondern eine fließende Geschichte, die erzählt wird durch Akrobatik und Tanz, durch Musik, Bühnengestaltung und Atmosphäre. Eine Geschichte, die sich wie ein roter Faden durch die Show zieht.

Die Artisten von Circus Sonnenstich würden gern häufiger trainieren. Doch der Trägerverein, das „Zentrum für bewegte Kunst“, hat selbst keine geeigneten Räume. Er ist auf die knapp bemessenen Zeiten in Schul-Turnhallen angewiesen – und auf finanzielle Unterstützung. Derzeit findet das Training an vier verschiedenen Orten in Berlin statt. Wunsch des Vereins ist es deshalb, eine Halle oder Fabriketage als Zuhause für den Circus Sonnenstich zu finden. Und Sponsoren, die helfen, dieses Ziel zu verwirklichen.